von Petra » Fr 2. Mär 2012, 17:59
Hallo zusammen,
ich habe „Anna Karenina“ nun ausgelesen. Am Wochenende werde ich mir noch Zeit nehmen für die Anmerkungen zu diversen Textstellen und für das Nachwort. Schön, dass ich dieses intensive Leseerlebnis somit sanft ausklingen lassen kann, und nicht allzu abrupt aus der Welt der Karenins, Demitritschs, Wronskis, Oblonskis etc. lösen muss. Das Buch und seine Figuren haben mich sehr gefangen genommen. Wie viel mehr, als bloß eine Geschichte über eine unglücklich verliebte verheiratete Frau hat Tolstoi hier geschrieben!
Seite 860 bis 1227 (Ende): Anna geht es zunehmend schlechter. Ihre seelische Verfassung verschlimmert sich. Einmal durch ihre ungewisse Situation, in der sie von der Gesellschaft ausgeschlossen ist, aber auch dadurch, dass sie ihren Sohn aufgeben musste, um mit Wronski zusammen sein und diese verzehrende Leidenschaft ausleben zu können. Zudem zerreißt sie innerlich der Zweifel an Wronskis Liebe. Sie fühlt sich ihm ausgeliefert, da es in seiner Macht steht, sie zu halten oder fallen zu lassen. Diese Gedanken setzen sich so sehr in ihr fest, dass sie eifersüchtig wird, auf die Zeit die er ohne sie verbringt, auf Frauen, die nur in ihrer Fantasie existieren, und dass sie an seiner Liebe zweifelt, ohne einen Grund zu haben. Das ist alles sehr nachvollziehbar geschildert. Man mag Anna vorwerfen, dass sie ihren Sohn verlassen hat, um mit Wronski leben zu können. Man mag ihr vorwerfen, dass sie die Tochter, die sie mit Wronski hat, nicht liebt. Doch wer schon einmal krank vor Liebe und Sehnsucht war, der wird sie wenigstens verstehen, und auch, dass ihr diese Gefühle, die sie ständig erfüllen, unerträglich werden. So sehr, dass sie sie zunächst betäubt mit Morphium, und später doch so unerträglich werden, dass sie nur noch einen Ausweg sieht: den Tod. Wie sie in der Zwischenzeit immer mehr von der Realität in ihre schmerzliche Traumwelt abgleitet, und später Wahnvorstellungen bekommt, wird durch diese Mischung (Gefühlsverwirrtheit und Morphium) erstaunlich nachvollziehbar.
Mein vollstes Mitleid hatte Wronski. Ich hatte anfangs gedacht, dass er ihr Grund geben würde, sich durch ihren Selbstmord rächen zu wollen, da er ein Lebemann war, und sich wohl nach dieser Unabhängigkeit von damals zurücksehnen würde. Doch ich als Leserin lag damit genauso falsch wie Anna, die ihm das unterstellt hat. Wie geschildert wird, dass er verzweifelt geweint hat an der Leiche seiner Anna, zerreißt einem fast das Herz. Und sein Entschluss mit seinem Körper im Krieg als Hilfe für die Serben gegen die Türken wenigstens noch etwas nutzbringendes zu leisten, da seine Seele bereits tot ist, tröstet nicht.
Eine große Liebe – ein fatales Ende. Die Liebe kann große Schmerzen bereiten. In einer Zeit, in der eine Frau von der Gesellschaft ausgestoßen war, wenn sie die Ehe gebrochen hatte und mit ihrem Geliebten zusammenlebte, umso mehr. Dass in solch einer Situation trotz der besten Voraussetzungen zwischen zwei Menschen keine Liebe zu finden ist, sondern vor allem Unzufriedenheit, Unglück, Rastlosigkeit, Leid und Bruch, ist zwangsläufig. Und das zeigt Tolstoi hier auf.
Doch dieses monumentales Werk hält viel mehr bereit, als diese tragische Liebesgeschichte. Durch Lewin spricht Tolstoi all die Themen an, die damals von Bedeutung waren, und zeichnet somit ein großangelegtes Panorama. Erstaunlich ist, dass die Aktualität der Themen heute noch zum Teil genauso gegeben ist. Nimmt man die Gedanken zur Landwirtschaft aus, so bleiben Themen, die uns heute genauso beschäftigen: Wozu leben wir? Wie sollte man leben? Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Gibt es Gott? Wie gelingt es, an ihn zu glauben? Lewin sucht Antworten, und findet sie. Eine nach der anderen. Im letzten Teil geht es ihm, den Ungläubigen, um Gott. Auch diese Gedanken sind sehr interessant und gut ausformuliert.
Neben den Hauptthemen gibt es eine Vielzahl von Nebenthemen, die auch ausgesprochen interessant sind. So z. B. auch um das Aufkommen einer öffentlichen Meinung. Und die Frage, wie gut oder schlecht eine öffentliche Meinung ist, und wer sie macht, und wem sie etwas einbringt. Spannend, dass Tolstoi sich damals so intensiv Gedanken um diese Themen gemacht hat, und alles zu diesem epischen Werk zusammengetragen hat.
Nachdenken möchte ich noch über diesen Punkt: Durch Tolstois „Kreutzersonate“ weiß ich, wie Tolstoi später über den Ehebruch gedacht hat, und über frevelhafte Frauen, die die armen hilflosen Männer verführen. Wobei, wenn man „Die Kreutzersonate“ gelesen hat, fragt man sich, was die Frau darin wohl schlimmes getan haben soll, dass Tolstois sie (und ihresgleichen) so sieht. Denn entgegen Tolstois Auffassung passiert darin nichts anderes, als dass der Mann einer schönen Frau erliegt, die ihn jedoch in keinster Weise ermuntert oder gar verführt hat. Er erliegt seinen eigenen Trieben, und diese Triebe, die sind es, die Tolstoi wahrscheinlich eigentlich verteufelt, und einen Schuldigen (eine Schuldige) finden will. Für mich war das Ausdruck der damals krankhaften Moral, die jegliches natürliche körperliche Verlangen verteufelt. Dass solch eine Einstellung krank machen muss, liegt klar auf der Hand. Wer ständig seine Bedürfnisse und sein Verlagen unterdrücken muss, kann bestimmt darüber seinen Verstand verlieren. Nun möchte ich überdenken, wie Tolstoi zu „Anna Karenina“ steht. Er verurteilt sie nicht. Er schaut mit Mitgefühl auf sie. Und doch sind Anklänge des späteren Tolstoi in dem Roman zu erkennen. Aber nicht in der Figur der Anna Karenina, sondern in der Figur des Lewin, dem Tolstoi ja viel von sich selbst zugeschrieben hat. Lewin reagiert ausgesprochen eifersüchtig auf alle Männer die in die Nähe seiner Frau Kitty kommen. Diese rasende (unbegründete) Eifersucht ist etwas, was sich auch in der „Kreutzersonate“ findet, und die auch im Leben Tolstois stattgefunden haben soll. Warum er gegenüber Anna Karenina so nachgiebig ist, möchte ich noch ergründen. Vielleicht wird mir auch die Biografie über seine Frau Aufschluss darüber geben.