Inhalt:
Henry Neff, 24 Jahr jung, bewirbt sich um
einen Job im Fundbüro der Deutschen Bundesbahn. Als er diesen
antritt, wird er von Herrn Harms, seinem Chef, der Henrys
Beweggründe nicht versteht, darauf aufmerksam gemacht, dass es
doch ungewöhnlich für einen jungen Mann ist, der sein Leben noch
vor sich hat, sich beruflich auf solch ein Abstellgleis zu
begeben. Noch versteht Harms Henry nicht, als dieser gesteht, dass
er gar keine Karriere machen möchte. Doch je länger Henry im
Fundbüro tätig ist, umso mehr Einvernehmen stellt sich ein.
Doch nicht nur in diesem Punkt. Auch
Henrys neue Kollegen wachsen ihm rasch ans Herz. Paula, die ihm
direkt sympathisch ist und Albert, der sich so liebevoll um seinen
alten Vater kümmert. Henrys Schwester, die im elterlichen Betrieb
strebsam ist, versteht ihren Bruder auch nicht so recht. Doch das
muss sie auch nicht, die beiden fühlen sich dennoch sehr
verbunden. Dies erfährt noch eine Steigerung, als sie Fedor
kennen lernen - ein Kirgise, der zu Gast an einer Technischen
Hochschule ist.
So vermischen sich bald Verluste und
Fundsachen im Fundbüro und auch im wahren Leben. Und auch Henry
bleibt nicht verschont und muss lernen, Werte neu zu definieren.
Denn entgegen seiner Annahme ist nicht alles Verlorene
ersetzlich...
Meine Meinung:
... was Henry nicht davon abhält, seinen
Weg zu gehen. Einen Weg in aller Leichtigkeit, ohne Ziel und doch
so geradlinig. Das ist es, was mir an diesem Buch am meisten
imponiert und zu denken gegeben hat. Henry betont mehrmals, er
verfolge kein Ziel. Und genau das wird ihm von den Menschen in
seiner Umgebung oftmals vorgeworfen. Durch Henry und seine
Gelassenheit, mit der er diesen Vorwürfen begegnet, wurde mir
klar, wie traurig verbissen manch einer unter uns seine Ziele
verfolgt. So richtig freisprechen können sich die meisten nicht
davon, und die, die es tun, gelten allgemeinhin als Verlierer. Eine merkwürdige
Assoziation, denn die Menschen, die im Fundbüro aufkreuzen um
einen Verlust zu melden, werden in Siegfried Lenz Buch Verlierer
genannt. Aber das ist nur eine von vielen symbolischen
Verknüpfungen in diesem Buch, die aber ebenso wenig ein Ziel
verfolgen wie Henry Neff. Sie verlaufen sich bis zur
Unkenntlichkeit. Und doch sind sie kurz da beim Lesen, diese
verwaschenen Gedanken, die sich in einem kurzen Augenblick zu
einer Wahrheit und Gewissheit formen um dann wieder zu
verschwimmen.
Eines steht fest: Für mich ist Henry kein
Verlierer. Das stellt er in der Handlung des Buches auch mehrmals
außer Frage. Was bleibt ist der Anspruch der Gesellschaft: Man
hat ein Ziel zu haben und es strebsam zu verfolgen.
Doch das ist nicht der einzige Eindruck,
der sich festsetzt und nicht loslassen möchte, auch wenn man das
Buch schon lange beendet hat. Es bleiben Gedanken über
Fremdenhass, über sinnlose Gewalt aus Langeweile und der
mangelnden Bestätigung durch die Umwelt. Das Gegenstück:
Freundschaft und Respekt, auch für die, die anders sind. Und
natürlich nicht zuletzt bleibt ein Hauch des Verlierens und
Wiederfindens über dem gesamten Buch.
Leider muss ich aber auch sagen, dass
dieses Buch durchaus einige Mängel aufweist. Während des Lesens
fragte ich mich immerzu, in welcher Zeit dieses Buch spielt. Im
Grunde ist mir das gar nicht wichtig, aber durch viele
Unstimmigkeiten drängte sich mir der Gedanke ständig auf.
Scannerkassen und Claudia Schiffer sind schon bekannt. Aber Fedor
springt von einem einfahrenden Zug ab. Das ist sicher schon lange
nicht mehr möglich. Ebenso bekommt der Leser mit, dass Henrys
Kollegin Paula nicht viel älter ist als er. Ein paar Jahre. Aber
ihr Mann ist Synchronsprecher, u. a. für Glenn Ford und Jerry
Lewis. Wenn er nicht steinalt ist, was ja auch noch eine
Möglichkeit wäre, dann ist das für mich nicht ganz zeitgemäß.
Ich weiß nicht, wann Siegfried Lenz das Buch geschrieben hat. Es
wird schon ein paar Jahre her sein, denn die Währung, mit der im
„Fundbüro“ gezahlt wird, ist die Mark. Aber Claudia Schiffer
ist noch nicht so lange im Geschäft, dass es mehrere Jahrzehnte her sein
kann. Auch Henry ist ein wenig antiquiert. Er verschenkt
Weinbrandbohnen. Das war vielleicht vor 30 Jahren chic. Heute
würde dies wohl aber eher für Verwunderung sorgen.
Auch muss Siegfried Lenz wohl auf die ein
oder andere Schreibeweise gepocht haben, was zeigt, dass sein Herz
an der alten Zeit zu hängen scheint. So wird in diesem Buch
Photo, Telephon und Photokopierer konsequent mit „PH“
geschrieben.
Wen solche Dinge stören, der sei also
darauf vorbereitet, dass dieses Buch von solchen
Ungewöhnlichkeiten wimmelt. Wer das beiseite stellen kann, dem
sei dieses Buch empfohlen. Denn eines steht für mich fest: es hat
mir riesengroßen Spaß gemacht und den Figuren glaubt man ihre
altmodische Ader. Sie sind darin nämlich sehr konsequent. Und
warum auch nicht? Jemand, der gern freiwillig im Fundbüro
arbeitet, statt das große Geld zu scheffeln, der verschenkt
vielleicht auch Weinbrandbohnen anstatt Ferrero Rocher. Lassen wir
Henry doch seine Freude! Und somit dem Leser auch. Entschädigt
wird dieser nämlich durch eine warmherzige Geschichte mit
unvergesslichen Charakteren, zu denen man sich bereits zu Anfang
gern gesellen würde, wenn sie sich über Teeservices austauschen
und aus welchem sie am liebsten trinken. Paula liebt ihr
chinesisches Teeservice, Henry seinen dickwandigen Becher. Wie
gern hätte ich mich dazugesellt und eingeworfen, dass ich Tassen
aus dünnem Glas für meinen Tee bevorzuge!
Somit entpuppte sich Siegfried Lenz' „Fundbüro“
für mich als Basar der liebenswerten, verschrobenen Figuren, den
ich gern besucht habe. Unterhaltsam und doch gehaltvoll und vor
allem in einer wirklich schönen Sprache. Manche Sätze etwas
lang, aber die entwickeln durchaus ihren Reiz. Ich denke, das wird
so manch einem Spaß machen - auch jenen, die sich an Siegfried
Lenz wegen seines Namens nicht herantrauen. Ich wette, so manch
einer wäre überrascht über dieses Buch und würde sehen, wie
unbegründet diese Scheu ist! (Petra)
Bewertung: ***/****
( * schlecht / ** ganz gut / *** gut
/ **** spitze)
Infos:
337 Seiten, gebunden, Hoffmann und Campe Verlag,
21,90 €
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