Meine Meinung:
Diese persönliche Anthologie ist ein klein bisschen als wäre
man bei Marcel Reich-Ranicki zu Hause und bekäme einen Blick in
seinen Bücherschrank gewährt, in dem er seine lyrischen
Schätzchen aufbewahrt. Dies betont er auch in Bezug auf „Meine
Gedichte“ - es sei eine ganz subjektive Auswahl, über die er
sich viele Gedanken gemacht habe und in die er nur diejenigen
Gedichte aufgenommen habe, die ihm auch heute noch viel Freude
bereiten oder die ihn immer noch berühren, wenn er sie liest.
Somit erhält man nicht nur einen Überblick über eine
interessante Auswahl von Gedichten sondern man erfährt auf diesem
Wege auch einiges über Marcel Reich-Ranicki. Denn diese
persönliche Auswahl verrät, was ihn anspricht, was ihn zu
bewegen vermag.
Wer Marcel Reich-Ranicki kennt, wird schon von einigen Dichtern
ahnen, dass etwas von ihnen dabei ist. Bei anderen überrascht die
Auswahl jedoch. Das Ergebnis ist ein bunter Strauß an Dichtern
und Gedichten, unter denen sich sowohl ernstes als auch
humoristisches, wie z. B. von Wilhelm Busch, Christian Morgenstern
oder Joachim Ringelnatz, findet.
Ein Vorwort hat Marcel Reich-Ranicki ebenfalls für diesen Band
verfasst, in dem er versucht zu ergründen ob man Gedichte braucht
und wozu eigentlich. Hierzu offenbart er seine ganz persönliche
Definition des „Gedichts“ und was es ihm zu geben vermag.
Man merkt, welche Freude es Marcel Reich-Ranicki bereitet hat,
an dieser Anthologie zu arbeiten. Und Absicht war sicherlich diese
Freude auch an den Leser weiterzugeben. Was meine Person
anbelangt, so ist es ihm gelungen. Nicht alle Gedichte, die hier
versammelt sind, haben unbedingt auch meinen Nerv getroffen, aber
das ist auch nicht weiter schlimm. Vielleicht kommt die rechte
Zeit für das jeweilige Gedicht ja noch. Und wenn nicht, so war es
in diesen Fällen dennoch sehr interessant sie zu lesen, da sie
viel über Marcel Reich-Ranicki verraten. Die meisten jedoch
gefielen mir - sogar ausgesprochen gut! Auf so manch einen Dichter
wurde ich mit diesem Band neugierig gemacht. Sehr gefreut habe ich
mich auch, einige mir bereits bekannte Dichter und Gedichte
wiederzufinden. Wie z. B. Christian Morgenstern und „Wandrers
Nachtlied“ von Goethe. Ebenfalls mit Freude habe ich
festgestellt, dass er Schiller und Hesse nicht „vergessen“
hat.
Die schlichte, schöne Ausstattung, in der dieser Band
präsentiert wird, unterstreicht den Schöngeist hinter den
Versen. Angemessen ist das Buch in bordeauxfarbenes Leinen
gebunden und schmeichelt somit den Sinnen.
Ein Quellenverzeichnis ist dem Band angefügt. Jedoch über das
Entstehungsdatum ist leider nichts vermerkt. Das habe ich ein
wenig vermisst. Aber zumindest sind die Gedichte chronologisch
nach Entstehungszeit sortiert, so dass man hieraus einige sehr
interessante Rückschlüsse ziehen kann. Dies versöhnt mich
wieder, zumal mir schon bewusst ist, dass nicht jedem Gedicht
einwandfrei ein Entstehungsdatum zugeordnet werden kann.
Gefreut habe ich mich darüber, dass auch einige Gedichte von
Ulla Hahn in Marcel Reich-Ranickis Auswahl aufgenommen wurden. Es
wundert mich zwar nicht, denn zu Zeiten des Literarischen
Quartetts kam es zwischen Marcel Reich-Ranicki und Ulla Hahn - wie
einigen bereits bekannt sein dürfte - zu einem Zerwürfnis, da
der Literatur-Kritiker ihren autobiografischen Roman „Das
verborgene Wort“ verrissen hat, nachdem er von ihrem lyrischen
Schaffen sehr angetan und voll des Lobes hierüber war. Dies hat -
habe ich Marcel Reich-Ranicki auch nicht zugetraut - auf seine
Meinung über ihre Lyrik keinen Einfluss genommen, wie die hier
ausgewählten Gedichte zeigen.
Sicherlich ist es unter der Prämisse auch hochinteressant,
Ulla Hahns Gedichtauswahl „Stimmen im Kanon“ - soeben in
gebundener Ausgabe im Reclam Verlag erschienen - vergleichsweise
beizuziehen. Vor allen Dingen interessant, welche Gedichte beide
als etwas Besonderes erachten und bei welchen Dichtern die
Meinungen konträr sind. Bedient man sich beider Anthologien, also
sowohl der Marcel Reich-Ranickis als auch der Ulla Hahns, so
erhält man einen noch umfassenderen Blick auf lohnenswerte Lyrik.
Zurück zu „Meine Gedichte“. Abschließend möchte ich dazu
sagen: Man mag von Marcel Reich-Ranicki halten was man mag, hier
gewährt er einen rundum bereichernden Einblick. Seine als
persönlich gekennzeichneten Empfehlungen sind mir jedenfalls
deutlich lieber - da höre ich ihm gern mal zu! (Petra)
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Rezension zu Ulla Hahns persönlicher Anthologie
"Stimmen im Kanon"! |
Bewertung: ****