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Rezension

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Inhalt:

Lionel Essrog hat das „Tourette”-Syndrom. Seine mal mehr, mal weniger stark ausgeprägten „Tics“ stellen seine Umwelt auf eine Geduldsprobe. Das zwanghafte Berühren von Menschen oder das Sortieren von Gegenständen gehören seit seiner Kindheit zu seinem Alltag, wobei beispielweise der Drang, Dinge anzufassen, die von einem Gürtel herabhängen, oder das Richten fremder Hemdkragen schon mal die eine oder andere unangenehme Situation heraufbeschwören können. Wie ein Niesen nach einem Gehirnkribbeln brechen sich zudem bei ihm unflätige Ausdrücke lautstark Bahn. Deshalb gilt Lionel in dem Brooklyner Waisenhaus, in dem er aufwächst, als Sonderling. Er fristet sein Dasein in der Bibliothek, verborgen vor der Welt. Bis eines Tages Frank Minna auftaucht, eine lokale Größe und Eigentümer eines semikriminellen Transportunternehmens. Er engagiert außer Lionel drei weitere Jungen als Hilfsarbeiter, Tony, Danny und Gilbert. Frank Minnas Zuneigung zu den Jungen ist gleichermaßen familiär wie verächtlich, doch gibt er ihnen eine raue Art von Zuhause. Lionel belegt er mit der Bezeichnung „Freakshow“, was dieser jedoch nicht als Beleidigung empfindet. Ganz im Gegenteil: Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt Lionel sich akzeptiert, kann seinem kaum zu kontrollierenden Verhalten ungehemmt freien Lauf lassen.

Noch als Erwachsene arbeiten die vier „Minna Men“ für Frank, der inzwischen eine als Fahrdienst getarnte Detektei betreibt. Über seine heiklen Kontakte zur Mafia bewahrt er Stillschweigen. Als er eines Nachts ermordet wird, obwohl er Lionel und Gilbert als Bodyguards eingeteilt hatte, heftet sich Lionel auf die Fersen seines Mörders. Im Alleingang will er den Fall lösen.

Meine Meinung:

„Erzähl deine Geschichte im Gehen!“

Lionel erzählt seine Geschichte selbst. Und wie! Der Roman ist in einer wunderbaren, bilderreichen Sprache geschrieben und von Michael Zöllner ins Deutsche übersetzt worden. Sie bringt den LeserInnen die Innen- und Außenwelt des Protagonisten näher, mit melancholischen wie heiteren Momenten und ohne die Krankheit ins Lächerliche zu ziehen. Lionel „tict“ nicht nur, er reflektiert selbstironisch und ohne zu beschönigen über sein Dasein. Seine unabwendbaren Wortwiederholungen und -verdrehungen, sein assoziatives Abgrasen von Wortfeldern sind ein Vergnügen. Lionel stolpert mehr oder weniger freiwillig in die absurdesten Situationen. Viele Szenen sind umwerfend komisch und parodieren die Lässigkeit der klassischen „Private eyes“, über die Lionel gern verfügen würde, die er aber niemals erreichen wird. Denn gegen sein Leiden ist kein Kraut gewachsen. Lediglich Essen und Zärtlichkeiten vermögen sein aufgewühltes Inneres vorübergehend zu besänftigen.

Aber der Roman hat auch ernstere Seiten. So unglaublich das klingen mag: Selbst das extrem Auffällige kann unsichtbar werden, wenn Mitmenschen den Hang zum Wegsehen perfektioniert haben: „Tourette lehrt dich, was die Leute ignorieren und vergessen, lehrt dich, den wirklichkeitsbeugenden Mechanismus zu durchschauen, den Leute einsetzen, um das Untolerierbare, Widersprüchliche, Zersetzende zu verdrängen - weil du selbst nämlich derjenige bist, der ihnen das Untolerierbare, Widersprüchliche, Zersetzende in den Weg legt.“ So führt Lionel trotz seiner gewöhnungsbedürftigen Tics ein von anderen weitgehend unbeachtetes Leben. Mit Minnas Tod droht seine zusammengestückelte Schmalspurganovenfamilie zu zerfallen. Zwischenmenschliche Beziehungen außerhalb existieren fast gar nicht, Liebesbeziehungen scheitern. Lionels Detektivarbeit ist deshalb Rachefeldzug und das Bemühen, zu bewahren, was noch zu retten ist, gleichzeitig. Ihm bei der Suche nach der Wahrheit zuzuschauen, macht viel Spaß. Und bald fragt man sich, wer sich hier absonderlich benimmt: Derjenige mit Tourette? Oder nicht vielmehr diejenigen ohne? „Kontext ist das A und O.“ (© Fevvers 2004)

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geht es zur Homepage „Tourette Deutschland“ mit weiterführenden Informationen und zu Artikeln über den Roman. Wer möchte, kann dort die gebundene Ausgabe von „Motherless Brooklyn“ bestellen. Der Verkaufserlös geht an die deutsche Tourette Gesellschaft.

Button geht es zu einem Artikel der „Frankfurter Rundschau“ zum Thema „Tourette“ und „Motherless Brooklyn“

Bewertung: **** (wo ist der fünfte?)

( * schlecht / ** ganz gut / *** gut / **** spitze)

Infos: Jonathan Lethem, Motherless Brooklyn, Goldmann 2003, 8,90 €.

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© 1998 Buecher4um, erstellt am 07.06.2004, letzte Änderung am 21.06.2004, Layout by abrakan