Der pensionierte Berner Kommissär
Bärlach ist schwer krank und liegt im Krankenhaus. Sein
behandelnder Arzt Dr. Hungertobels ist auch gleichzeitig seit
Jahren ein guter Freund von Bärlach. Bei einem Gespräch am
Krankenbett zwischen den beiden, fällt Hungertobels Blick auf
eine aufgeschlagene Zeitschrift, die sein Patient gerade liest.
Ein darin abgebildetes Foto erregt seine Aufmerksamkeit. Bärlach
entgeht das nicht und er fragt seinen Freund, was ihn an dem Foto
so fasziniere. Hungertobel meinte eine Ähnlichkeit mit einem
Kollegen, Dr. Emmenberger, in dem Foto zu erkennen, was, so meint
er, nicht sein könne, da das Foto einen KZ-Arzt zeigt, der im
Dritten Reich im Konzentrationslager Stutthof Menschen ohne
Narkose operiert hat. Kommissär Bärlach - pensioniert hin oder
her - ganz der Kriminalist, versucht den ursprünglichen Verdacht,
dass der Arzt auf dem Foto Dr. Emmenberger ist, zu untermauern. Wo
er doch gerade sonst nichts zu tun hat. Und schon bald findet er
Indizien, die dafür sprechen, dass Hungertobels Kollege eben
dieser KZ-Arzt ist.
Bärlach vereinbart mit Hungertobel, dass
er sich bei Dr. Emmenberger in Behandlung begibt, damit er diesem
auf den Zahn fühlen kann. Doch schon bald muss Bärlach
feststellen, dass er sich womöglich über- und Dr. Emmenberger
unterschätzt hat...
Meine Meinung:
Was als amüsantes Kriminalstück beginnt,
wird ganz schnell ernst. Nicht nur, dass es für Kommissär
Bärlach brenzlig wird, als er den KZ-Arzt stellen will und er den
in ihm schlummernden Sadismus unterschätzt hat, sondern es wird
auch für den Leser höchst unangenehm. Denn die Schrecken der
Nazis scheinen beim Hören nicht längst vergangen, sondern
höchst präsent. Allein Gullivers eindringlich zum Ausdruck
gebrachte maßlose Wut darüber, was seinem Volk angetan wurde,
geht mehr als unter die Haut - sie geht an die Substanz!
Auch was in „Der Verdacht“ eine
Ärztin zu sagen hat über das Sterben der Armen und das Sterben
der Reichen, ist an Eindringlichkeit kaum zu überbieten. Der
Blick, mit dem sie die Welt und die Menschen betrachtet ist gar zu
schaurig, zu düster, zu trostlos - denkt man im selben
Augenblick, in dem man den Wahrheitsgehalt ihrer Worte begreift.
Ein verstörender Eindruck, der nachhallt.
Der Glaube ist auch zwangsläufig ein
Thema, da hier ja die Judenverfolgung aufgegriffen wird. Mit
kleinen Sätzen, scheinbar so ganz nebenbei, wird der Glaube,
insbesondere der christliche Glaube, ad absurdum geführt.
Beeindruckend, wie mühelos und präzise es Friedrich Dürrenmatt
gelingt, mit wenigen Worten zu dieser Thematik, sämtliche
Illussionen zu zerstören, die man über den Glauben im
Allgemeinen und die Christen hier im Besonderen hegen mag.
Was versprach ein Schelmenstück zu
werden, entwickelt sich zu einer Verarbeitung eines der
düstersten Kapitel in der Geschichte der Menschheit, ohne dabei
an Unterhaltungswert einzubüßen. Es bleibt zudem genügend Raum
für eigene Gedanken. Gedanken darüber, was den Menschen angetan
wurde, der Versuch, die Motive der Täter zu ergründen, etc..
Dass jemand es versteht so mit der
Deutschen Vergangenheit umzugehen, ist ein Gewinn. Zudem wenn es
auf sprachlich so hohem Niveau geschieht. Hier wird weder ein
ernstes Thema herabgewürdigt durch eine belustigende Handlung,
noch wird der Leser mit der erdrückenden Vergangenheit
erschlagen. Dürrenmatt ist damit ein eleganter Drahtseilakt
gelungen, zu dem sicherlich auch Mut gehört - zumal wenn man
bedenkt, dass „Der Verdacht“ recht kurz nach dem Krieg
entstanden ist. Schriftsteller, wie er einer war, wünscht man
sich häufiger, aber sie sind selten! (Petra)
Bewertung: ****