von Petra » Do 29. Nov 2018, 16:42
Ich habe heute „Wir Ertrunkenen“ von Carsten Jensen beendet, und möchte abschließend berichten.
Ein Roman der uns mit nimmt auf die Weltmeere, ein Roman, der uns immer wieder zurückführt. Zurück in die Heimatstadt des Autors, die dänische Hafenstadt Marstal. Er erzählt uns die Geschichte der Seefahrt, die Geschichte einer Hafenstadt, die Geschichte der Menschen von Marstal. Er wählt für seine Erzählung die Wir-Form, und lässt sich dadurch in den unterschiedlichen Gruppierungen nieder. In den Jungs, die dazu geboren sind zur See zu fahren, in den Frauen, die dazu geboren sind, in der Stadt zu bleiben, und schließlich in den Witwen, denen das Meer ihre Männer nimmt.
Ich wusste gar nicht, dass mir ein Abenteuerroman solches Vergnügen bereiten könnte. Ich öffne mich künftig stärker diesem Genre. „Wir Ertrunkenen“ ist Vieles: Abenteuerroman, Historienroman, ein Roman über die Seefahrt (und ihre Entwicklung), der Roman einer Stadt. Und in allen Belangen ein Schmöker im allerbesten Sinne!
Interessantes Detail: In dem Roman gibt es eine Episode, in der die Witwe des Marinemalers Carl Rasmussen (diesen Maler gab es wirklich) auftritt. Interessant deshalb, weil der Roman „Rasmussens letzte Reise“ von Carsten Jensen von der Figur des Marinemalers handelt. Andersherum soll auch in „Rasmussens letzte Reise“ Albert (eine der Hauptfiguren aus „Wir Ertrunkenen“) bei dem Marinemaler Porträt sitzen. Solche Verbindungen mag ich.
Ich las die TB-Ausgabe. Die gebundene Ausgabe wurde in der TB-Ausgabe um die Entstehungsgeschichte des Romans erweitert. Die interessiert nach dem Lesen sehr, denn man möchte wissen, was ist Seemannsgarn und frei erfunden, und was wahr. Darüber äußert sich Carsten Jensen mit einem interessanten Gedanken. Er sagt, es lässt sich nicht ohne Weiteres trennen, doch sei es so, dass je unwahrscheinlicher eine Episode erscheint, umso größer die Wahrscheinlichkeit sei, dass sie wahr ist. Das hätte ich einerseits nicht angenommen, und doch ist es absolut nachvollziehbar. Erfreut hat mich, dass der Autor so mit den Geschichten umgegangen ist, dass er nicht mehr drauf gelegt hat, als die Realität verkraften kann. Und es lässt einen mal wieder staunen über das Leben, und die Erlebnisse, die es mit sich bringt.
Noch etwas fand ich absolut bemerkenswert: Viele Bewohner Marstals glaubten sich und Vorfahren in der ein oder anderen Romanfigur wiederzuerkennen. Einen der glaubte sich in einer Figur wiederzuerkennen, wollte Carsten Jensen nicht enttäuschen, und verschwieg, dass er sich irrte. Diese Person sagte jedoch schließlich selbst: „Aber im Grunde ist es auch egal. Wir alle kommen darin vor.“ Damit sprach er etwas an, was ich beim Lesen ebenso empfunden habe. Es ist egal, ob und wen es wirklich gegeben hat. Denn die Summe all dessen was Carsten Jensen erzählt, sind die Bewohner Marstals. Weiter noch, sind all die Seefahrer. Sind all die Ertrunkenen. Mein eigener Großvater war kein Marstaler, er kam aus Bochum. Im zweiten Weltkrieg war er bei der Marine. Ich weiß, dass er anderen beim Ertrinken zusehen musste, sie nicht retten durfte! Und ich ahne was das mit ihm gemacht hat. Mehr als wenige Andeutungen waren meinem Großvater nicht zu entlocken, die Erlebnisse haben ihn im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos gemacht. Wie so viele andere auch (auch von denen berichtet Carsten Jensen). Doch ich habe von diesen wenigen Andeutungen ganz viel in dem Roman wiedererkannt. Und so erzählt Carsten Jensen in „Wir Ertrunkenen“ auch über die Geschichten, die mein Großvater (und so viele andere!) erlebt haben, und die sie nicht aussprechen konnten, weil sie einfach zu schrecklich waren. Ich kam meinem Großvater in dem Roman sehr nahe. Ich bin dafür dankbar! Aber das ist nur ein Teil – der Vierte des Romans, in dem es um die Zeitspanne des zweiten Weltkriegs geht – des Romans, der 100 Jahre der Seefahrt erzählt. In Geschichten, die uns fühlen lassen, wie es war.
Jetzt gehe ich nach einer langen und aufregenden Reise wieder an Land. Es zieht mich nach Berlin, wo Claudia Tiescky mir in “Engele“ eine von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirierte Geschichte erzählen möchte. Diesen Roman entdeckt ich vor ein paar Monaten unter den Neuerscheinungen. Er sprach mich sofort an. Ich kaufte ihn, und legte ihn für den beginnenden Winter bereit. Ich freue mich auf das Buch, und werde berichten.
Steffi, "Die letzte Reise der Meerjungfrau" klingt nach einem schönen Lesevergnügen. Auch das Cover ist schön. Ich hoffe auf deinen weiteren Bericht. Auch erinnerst du mich daran, dass ich Roberto Bolano noch zu entdecken habe.