von Petra » Sa 21. Sep 2019, 14:55
„Mardi und eine Reise dorthin“ von Herman Melville habe ich vor kurzem beendet. Ich möchte berichten:
Nähme man die Geschichte für sich, so könnte man sich fragen, wie man damit 800 Seiten füllen möchte. Ein Seemann flieht auf hoher See zusammen mit einem Kameraden von Bord eines Walfangschiffes, da dies nicht wie vereinbart weiter in der Südsee auf Fang geht, sondern nach Norden aufbricht, da dort mehr Wale (wenn auch nicht die gewünschten) zu finden sind. In einem Beiboot fliehen die beiden, stoßen im Pazifik auf ein anderes Boot, dem sie sich nähern. Dort befreien sie ein Mädchen, dass der See geopfert werden soll, und müssen den Häuptling des Bootes dafür töten. Dessen Söhne verfolgen fortan die Flüchtigen. Nachdem sie mit dem Mädchen, ihr Name ist Yillah, auf einer Insel des (fiktiven) Archipels Mardi an Land gehen, verschwindet kurz danach Yillah. Es beginnt eine Reise auf der Suche nach dem Mädchen, die zu einer Odyssee wird, und die Suchenden (die beiden, die von dem Walfangschiff geflüchtet waren, ein König, ein Philosoph, ein Sänger und ein mit der Geschichte Mardis Vertrauter) suchen das unzählige Inseln umfassende Archipel nach Yillah ab. Gelangen so von Insel zu Insel und lernen deren Herrscher kennen. Doch nirgends von Yillah eine Spur.
Während sich der Roman im ersten Drittel noch wie ein Abenteuerroman liest, driftet er im zweiten Drittel in eine politische Allegorie oder Satire ab. Jede der bereisten Inseln steht für ein Land oder einen Kontinent. Die Herrscher persiflieren oftmals zu Melvilles Zeit herrschende Staatsoberhäupter. Auf den Fahrten von einer Insel zur nächsten, vertreibt sich die muntere Gesellschaft die Zeit mit Gesprächen. Humorvoll und geistreich, und oftmals philosophisch. Im letzten Drittel gewinnen diese philosophischen Gespräche die Oberhand. Die Suche nach Yillah wird zumeist nur mit einem Satz abgehandelt (auch auf dieser Insel keine Spur von Yillah). Schließlich am Ende wird offenbar, dass Yillah mehr ein Phantom ist.
Melville sagte über dieses Buch selbst, dass es sich irgendwann verselbständigt und sich selbst weiterschrieb. Das spürt man auch. Es ist mit Melville durchgegangen. Doch weiß man nicht, ob man es bedauern soll oder es nicht genau dadurch so einzigartig und gewaltig geworden ist.
Melville hatte zuvor zwei Bücher geschrieben, in denen er von seinen eigenen Reiseerlebnissen erzählt. Mardi dagegen ist rein fiktiv. Und auch wenn es nicht von einer seiner tatsächlich unternommenen Reisen handelt, ist es eine Reise ins Innerste. Und auch eine Reise in die Welt, wie sie damals zu Melvilles Zeiten war.
Ist es nun ein gelungenes Buch? Oder ist es vollkommen missraten? Es ist beides und beides nicht. Es macht mich sprachlos, weil es so voll (zu voll) ist, so maßlos, so ausufernd, und ich mich oftmals fragte, ob ich das – bei aller Liebe – lesen muss. Und auf der anderen Seite löst es große Bewunderung in mir aus. Über einen Autor, der sich so verlieren kann ohne vollends verloren zu gehen, und der dabei so viel zu erzählen hat, in solch wunderbar (oft auch poetischer) Sprache, mit so viel Humor und einer unglaublichen Intelligenz, sowie einem Wissensschatz, der schier unerschöpflich scheint. Bei allem zwischenzeitlich empfundenen Unmut ob dieser Zumutung von Buch, überwog die Faszination und Bewunderung. Ich werde dieses Buch bestimmt nie vergessen. Und es ist voller versteckter Anspielungen, denen man auf den Grund gehen kann. Das kann man in so großem Umfang aber nur wegen der großartigen Fußnoten. Der Leser wird dadurch über Hintergründe vielfältigster Art aufgeklärt. So z. B. über Begriffe aus der Seefahrt, sowie historische Ereignisse auf die – manchmal nur durch einen Namen oder ein Wort – angespielt wird. Auch sind viele Anspielungen aus der Bibel, der griechischen Mythologie etc. enthalten, die ebenfalls bestens erklärt werden. Auch das Nachwort des Übersetzers Rainer G. Schmidt hilft zum besseren Verständnis. Somit nicht nur ein Roman, der einem den Atem verschlägt, sondern auch eine wunderbare (überarbeitete) Neuausgabe, die um viele weitere Fußnoten ergänzt wurde. Überdies interessant, dass dieser Klassiker aus dem Werk Melvilles erstmals 1997 in deutscher Übersetzung vorlag! Mit dieser überarbeiteten (wunderschön ausgestatteten) Ausgabe hat der Manesse Verlag Melville ein tolles Geschenk zum 200. Geburtstag bereitet.
Nun brauche ich aber unbedingt literarisch erst mal wieder festen Boden unter den Füßen und bin froh nach dieser langen uferlosen Reise wieder an Land zu gehen.
Anmerken möchte ich, dass Melville (wie später auch in „Moby Dick“) einen prägnanten tollen ersten Satz für seinen Roman gewählt hat. Er beginnt mit: „Wir sind los.“