von Petra » So 19. Jan 2020, 21:04
Schon lange liegt bei mir das Buch "Ein Winter in Hakkari" von Ferit Edgü. Darauf gebracht hat mich vor Jahren Lilywhite Lilith hier im Forum. Ich bin für den Buchtipp sehr dankbar, ohne sie hätte ich dieses wunderbare Stück Literatur nicht entdeckt.
Ferit Edgü gilt als Vertreter der türkischen experimentellen Literaturströmung. Es gibt auch Momente, die an Kafka erinnern. Doch hat Ferit Edgü einen ganz eigenen Ton, poetisch, lyrisch. Er malt in manchen Passagen Wortbilder.
In ein Dorf im Hochgebirge Ostanatoliens wird der Erzähler für ein Jahr als Lehrer geschickt, so wie es auch Ferit Edgü selbst ergangen ist. Der Erzähler spricht nicht die Sprache der Bewohner des Dorfes, und die kurdischen Bewohner sprechen seine Sprache nicht. In diesem Dorf lässt er alles hinter sich. Seine Vergangenheit, die Zivilisation und schließlich sich selbst. Er taucht ein in das Leben in diesem Dorf, und lehrt nicht nur die Schüler, sondern lernt auch selber, nimmt sich vieles mit. Gekommen als Schiffsbrüchiger (sinnbildlich, denn es bleibt unklar in welcher Form er im Leben Schiffbruch erlitten hat), sitzt er den ganzen Winter im tief verschneiten Bergdorf fest, verliert sich und findet sich. Und ist schließlich bereit neue Wege zu gehen. All das ist auf kleinstem Raum (230 Seiten) erzählt, in teilweise kurzen Passagen in lyrischem Stil. Es öffnen sich viele Türen und Gedanken.
Aber auch über die Menschen in dem Bergdorf, den ärmlichen Verhältnissen dort, der Hilflosigkeit dem Tod gegenüber, erzählt Ferit Edgü, was es auch zu einem politischen Buch macht.
Für mich ist die Lektüre auch besonders ansprechend, da mein Mann aus Anatolien kommt. Zwar nicht aus Ostanatolien, aber sein Dorf liegt ebenfalls im Taurusgebirge, und ist recht hoch gelegen. Ich kann mir sowohl die Landschaft, als auch die Schneemassen und die Berge, und solch ein Dorf gut vorstellen, da Ayhan mich in sein Dorf mitgenommen hatte, und auch noch ein Stückchen weiter rauf in die Berge, wo er viel Zeit verbracht hat.
Im Anschluss werde ich mir bestimmt noch die Verfilmung „Eine Saison in Hakkari“ anschauen. Auch diese verdanke ich einem Forumsmitglied.
@Bonny: Dass "Die Wurzeln des Lebens" in greifbare Nähe rücken (wo du es leider nicht zu Weihnachten geschenkt bekommen hast), ist schön. Und schön, dass du dir mit Maja Lunde die Zeit bis dahin vertreiben kannst. Thematisch auch auch in Richtung unsere Umwelt. Ich bin gespannt wie es dir gefällt, ich habe von ihr noch nichts gelesen.
Dass ich dich auf die Autorin Lucia Berlin und ihre Stories neugierig machen konnte, freut mich sehr. So lesenswert!
@Maria: Ja, Lucia Berlin verehrte Tschechow. Im Band „Was wirst du tun, wenn du gehst“ (diese Woche bei mir eingetroffen) beginnt die erste Story („Eine Frage der Perspektive“) folgendermaßen: „Stellen Sie sich Tschechows Erzählung Trauer in der ersten Person Singular vor.“ Sie schreibt in dieser Story über die Kunst des Schreibens, auch über Tschechow. Diese Geschichte („Point of View“) könnte in deiner englischsprachigen Ausgabe enthalten sein, schau mal nach wenn du magst. Mich würde auch interessieren, wie viele der 76 (oder 77 – es gibt unterschiedliche Angaben) Stories von Lucia Berlin in deiner Ausgabe enthalten sind. Vielleicht kannst du mal nachschauen?
Ja, vielleicht ist das eine gute Gelegenheit wieder in Englisch zu lesen, da du das englische ebook „A Manuel for Cleaning Women“ hast. Es gibt in „Was ich sonst noch verpasst habe“ auch ein paar Geschichten die aus ihrer Zeit, als sie als Putzfrau arbeitete, stammen. Eindrucksvoll.
Ich selbst habe lange Zeit nicht viel mit Kurzgeschichten anfangen können, wenn mir auch gelegentlich gelesene von Katherine Mansfield oder Lydia Davis durchaus gefallen haben. So richtig auf den Geschmack gekommen bin ich vor ein paar Jahren durch Elizabeth Strout, die in ihren Geschichten rund um Olive Kitteridge ja auch Kurzgeschichten erzählt, deren verbindendes Glied immer Olive Kitteridge ist. Dieses Frühjahr kommt ein zweiter Band rund um Olive Kitteridge heraus, auf den ich mich sehr freue. Auch in „Die Unvollkommenheit der Liebe“ und „Alles ist möglich“ werden eher Kurzgeschichten erzählt, die durch die Figuren miteinander verwoben sind. Ich habe festgestellt, dass ich dafür ein besonderes Faible habe. Lucia Berlins Geschichten sind ja ebenfalls alle lose miteinander verwoben und ergeben ein Mosaik. Aber auch regt mich dieses wunderbare Leseerlebnis an, künftig häufiger Kurzgeschichten zu lesen. Wieder ansetzen möchte ich auch bei Lydia Davis und Katherine Mansfield. Aber es gibt auch viele andere zu entdecken, im Laufe der Jahre habe ich in meinem Regal einige angesammelt, für die nie die rechte Zeit war. Sie ist nun eingeläutet.