Leseprojekt - Erzählungen

Plattform zum Austausch über Bücher und Themen rund ums Buch.
Forumsregeln
Kommerzielle Einträge werden ohne Kommentar gelöscht!

Re: Leseprojekt - Erzählungen

Beitragvon Petra » Di 8. Mär 2022, 17:49

Sonja hat mich auf Lily Brett sehr neugierig gemacht. Meine eigene Erfahrung mit der Autorin beschränkte sich auf ein Hörbuch, das ich vor vielen Jahren gehört hatte. „Chuzpe“ hatte mir damals sehr gefallen. Durch den Austausch mit Sonja habe ich erfahren, dass es in „Zu viele Männer“ ein Wiedersehen mit den Hauptfiguren aus „Chuzpe“ gibt. Mit Ruth Rothwax und ihrem Vater Edek, der mir unvergessen bleibt. Bei meiner weiteren Recherche stieß ich auf weitere interessante Infos. Es gibt einen dritten Roman mit Ruth Rothwax: „Uncomfortably Close“, leider nicht ins Deutsche übersetzt. Und ich fand heraus, dass Lily Bretts Figuren auch in anderen Romanen eigentlich immer Alter Egos ihrer Selbst sind, und auch ihrer Eltern.

Lily Brett hat aber auch viele Erzählungen, die stets autobiografisch sind, geschrieben. Oder sagen wir besser Essays. Die Bände „New York“, „Noch immer New York“ und „Zu sehen“, sowie „Alt sind nur die anderen“ habe ich mir zugelegt. Begonnen habe ich mit „Zu sehen“, es reizte mit aufgrund der Themenüberschriften (u. a. Altern, New York, Mein Körper, Essen, Tod, Liebe, Schreiben) sehr. Beim reinlesen zog mich Lily Brett gleich in ihren Bann. Ich konnte mich ihren Worten auf der Stelle nicht mehr entziehen. Und habe mich auf den ersten Seiten schon in sie verliebt.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Denn bei meinen Recherchen bin ich auch auf kritische Worte gestoßen, auch zu diesem Buch. Die meisten lieben es, lieben die Autorin. Aber es wird auch angemerkt, dass die Geschichten alle von ihr selbst erzählen, und sie offenbar sehr gerne über sich spricht, und ein bisschen selbstverliebt wirkt. Und dass sie ständig ihre unzähligen Psychoanalysen erwähnt. Ja, das stimmt! Aber wegen mir kann sie noch Tausende Seiten weiter von sich und ihren Analysen erzählen. In genau der ihr eigenen Art. Und das überrascht mich, denn ich hätte von mir angenommen, dass mich das Kreisen um sich selbst abstoßen würde. Aber mitnichten. Im Gegenteil verspüre ich den Wunsch von ihr alles zu lesen. Und das passiert mir nicht so schnell.

Was macht den Zauber aus, den Lily Brett auf mich ausübt? Sie ist so unvollkommen. Wie wir alle. Und hadert damit. Versöhnt sich aber auch mit sich selbst. Sie hat die Liebe zu sich selbst nicht verloren, oder eher: sie hat die Liebe zu sich selbst gefunden. Dann: Sie schreibt mit indirektem Blick vom Holocaust in all ihren Büchern. Indirekt, weil sie ihn selbst nicht erlebt hat, aber ihre Eltern. Ihre Eltern wurden erst nach Lodz ins Ghetto, und dann nach Ausschwitz deportiert. Und mit ihnen ihre gesamte Familie. Niemand hat es überlebt. Nur diese zwei: Vater und Mutter von Lily Brett. Getrennt voneinander. Sie haben sich erst 6 Monate nach Kriegsende wiedergefunden. Und sie haben, so sagt Lily Brett über ihre Eltern, nie die Fähigkeit verloren zu lieben. Trotz aller Erlebter unvorstellbarer Schrecken. So ist Lily Brett mit viel Liebe großgeworden, aber auch mit den Dämonen der Vergangenheit der Eltern. All die Toten, dem ganzen Verlust. Dem Gefühl, das nichts sicher ist. Lily Bretts Probleme geben einen sehr guten Einblick, was der Holocaust auch für die 2. Generation bedeutet. Das habe ich so noch nicht gelesen. Mein Blick konzentrierte sich bisher auf die Generation, die die Schrecken selbst erlebt hat. Es ist auch nicht so, dass Lily Brett das Thema in ihren Essays (vermutlich gilt das auch für die meisten ihrer Romane) in den Vordergrund stellt. Es schwingt aber immer mit. Das Thema ist selbstverständlich, es ist immer da, denn es ist ein Teil ihrer Familiengeschichte, und somit auch ein direkter Teil ihres eigenen Lebens.

Ein weiterer Zauber geht von etwas aus, das Sonja so passend beschrieb: In Lily Bretts Veröffentlichungen ist New York (ihre Wahlheimat) ein Protagonist. Das empfinde ich ganz genauso wie Sonja, und es entzückt mich in der Weise, in der Lily Brett New York die Bühne bereitet. Wer selbst schon dort war, spürt die Stadt, spürt die Orte und ihre Menschen. Da geht dem Leser das Herz auf! Und so geht es mir bei allen Protagonisten aus Lily Bretts Geschichten: Lily Brett, ihre Eltern und New York.

Zauberhaft ist auch die Leichtigkeit, in der sie über alles, auch die schlechten und traurigen Dinge, erzählt. In all ihren Sätzen liegt eine unglaubliche Wärme. Wie liebevoll sie ist! Und sie hat Humor. Was für eine Frau, was für eine Schriftstellerin!

Ich habe großen Hunger nach mehr, und freue mich auf weitere Geschichten und Romane.

An Sonja lieben und großen Dank fürs auf diese Autorin (wieder) neugierig machen. Durch dich habe ich sie erst so richtig für mich entdeckt.
Liebe Grüße,
Petra


Ich lese gerade: :lesen:
Rónán Hession - Leonhard und Paul (HC)
Benjamin Stevenson - Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen (ebook)

Ich höre gerade: :kopfhoerer:
-

Buecher4um
Hoerbuecher4um
Seifen4um
Petras SeifenKUNST
Benutzeravatar
Petra
Administrator
 
Beiträge: 14277
Registriert: Do 27. Mär 2008, 13:34

Re: Leseprojekt - Erzählungen

Beitragvon Petra » Mo 5. Feb 2024, 16:44

Die 1942 geborene Jane Campbell wurde 2017 auf den Bermudas, wo sie das halbe Jahr verbringt (die übrige Hälfte in England), zu einer späten ersten Erzählung inspiriert. Selbstbewusst schickte sie diese Erzählung ("Katzenbuckel") an die renommierte London Review of Books, die sie prompt veröffentlichte. Die begeisterten Zuschriften ermutigten sie zu weiteren Erzählungen, die nun im vorliegenden Band "Kleine Kratzer" veröffentlicht wurden.

Die Heldinnen dieser 13 Erzählungen sind allesamt alte Frauen, die sich nicht entmündigen und enteignen lassen. Sie erzählen uns von ihren Wünschen und Sehnsüchten, von denen wir keine Ahnung hatten. Und greifen mitunter zu radikalen Mitteln. Diese Geschichten sind nicht sanftmütig, sondern stecken voller Entschlusskraft.

Jane Campbell ist hellwach und intelligent. Und genau so ist auch ihr Erzählstil.
Liebe Grüße,
Petra


Ich lese gerade: :lesen:
Rónán Hession - Leonhard und Paul (HC)
Benjamin Stevenson - Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen (ebook)

Ich höre gerade: :kopfhoerer:
-

Buecher4um
Hoerbuecher4um
Seifen4um
Petras SeifenKUNST
Benutzeravatar
Petra
Administrator
 
Beiträge: 14277
Registriert: Do 27. Mär 2008, 13:34

Re: Leseprojekt - Erzählungen

Beitragvon Petra » Mi 20. Mär 2024, 16:06

Die Erzählungen von Barbi Marković habe ich zufällig entdeckt, als in der Sendung Literaturclub ihr Buch “Minihorror“ besprochen, und eine Erzählung daraus vorgelesen wurde. Der Vortrag löste unkontrolliertes Gelächter in mir aus, so absurd und gleichzeitig lebensnah war diese vorgetragene Geschichte, über einen Freund, den die beiden Hauptfiguren Mini und Miki des Erzählungsbands treffen, und der ihnen im Verlauf des Gesprächs manisch versichert, dass es ihm gut, ja so richtig gut gehe, und damit gar nicht mehr aufhören kann.

Sofort wusste ich, dass ich dieses Buch haben muss! Ich war nicht die Einzige, die auf die Idee kam. Die Ausstrahlung des Literaturclubs hat wohl nicht nur mich veranlasst, es zu kaufen, es musste nachgedruckt werden. Bestimmt vor allem aber auch, weil es – wie ich später bemerkte – für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 nominiert war. Mit diesem immensen Erfolg hatte der Residenz Verlag wohl selbst nicht gerechnet.

In den Geschichten nehmen uns die beiden Figuren Mini und Miki mit durch ihren städtischen Alltag, in dem hinter mancher Ecke der blanke Minihorror lauert, von dem uns hier erzählt wird. Der Minihorror erscheint in einem schrillen und lustigen Kleid, und bringt doch eine Verunsicherung mit sich. Denn diesem alltäglichen Minihorror, mit dem es Mini und Miki hier zu tun bekommen, finden wir auch in unserem alltäglichen Leben. Nur wurde von ihm noch nie so hochkomisch erzählt, dass man sich teilweise ausschütten kann vor Lachen. Barbi Marković bringt uns damit auf eine ganz eigene und andere Art zum Hinschauen. Mich hat sie verzückt! Gerne würde ich weitere Geschichten von Mini und Miki lesen. Vielleicht erfüllt sich der Wunsch ja irgendwann. Ein bisschen Hoffnung macht mir, dass im Anhang noch 105 Ideen für weitere mögliche Minihorror-Geschichten stehen. Bei einigen von ihnen musste ich schon wieder Auflachen.
Ansonsten bleibt mir nur, sie immer mal wieder nachzulesen. Etwas, was ich eigentlich nie tue, dafür gibt es zu viele noch ungelesene Bücher, die mich reizen. Und doch habe ich diese Geschichten gleich nach dem beenden schon so stark vermisst, dass ich eine inzwischen schon zum dritten Mal gelesen habe, und gerne auch aus dem Buch vorlese.

Auch die Gestaltung des Buches gefällt mir sehr. Das Cover hat etwas comichaftes, ebenso der Schriftzug auf dem Einband, der Mickey Mouse-Köpfe aufweist, in Anlehnung an die Namen der Figuren. Das passt zum Stil der Erzählungen, die einen hin und wieder an einen Comic denken lassen, weil sie so bunt und witzig sind, aber auch durch manchen Sprachausdruck, der eingestreut ist. Der Einband ist in einem schönen frischen Pink gehalten. Das macht richtig gute Laune. Genauso wie Mini und Miki, die sich tapfer durch ihr Leben schlagen (ja, manchmal wirklich schlagen).

Mir haben diese abgründigen und tiefgründigen Minihorror-Geschichten so ausgezeichnet gefallen, dass ich das Buch in die Liste meiner Lieblingsbücher eingetragen habe. Es ist mit das Tollste (toll im Sinne von wunderbar und im ursprünglichen Sinne von „verrückt“), was ich in letzter Zeit gelesen habe!
Liebe Grüße,
Petra


Ich lese gerade: :lesen:
Rónán Hession - Leonhard und Paul (HC)
Benjamin Stevenson - Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen (ebook)

Ich höre gerade: :kopfhoerer:
-

Buecher4um
Hoerbuecher4um
Seifen4um
Petras SeifenKUNST
Benutzeravatar
Petra
Administrator
 
Beiträge: 14277
Registriert: Do 27. Mär 2008, 13:34

Vorherige

Zurück zu Diskussionsforum

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Petra und 90 Gäste