Petra hat geschrieben:Ich empfinde das Lesen und unser Forum als Zufluchtsort, an dem es mir auch mal gelingt, für diese Zeit die Geschehnisse etwas in den Hintergrund zu schieben. Lesen hilft verstehen, Lesen hilft abtauchen, Lesen kann so viel!
Schön, dass wir uns hier so intensiv austauschen über unsere Bücher. Deinen Bericht über "Nur nicht unsichtbar werden" von Nuala O'Faolain habe ich mit Interesse gelesen.
Ja, hier kann man sich wie in einer Oase vorkommen.
"Nur nicht unsichtbar werden" habe ich gestern zu Ende gelesen. Es hängt mir immer noch nach. Ich empfand das Lesen so viel intensiver als beim ersten Mal.
Nuala O'Faolain hat von jung auf gegen ihr Leben, wie man es im erzkatholischen Irland für Frauen vorgesehen hat, rebelliert: Heirat, Kinder und männliche Gewalt. Immer wieder hat sie Affären und sie sucht Trost im Alkohol. Erst in der Beziehung mit Nell (die Journalistin Nell McCafferty) entdeckt sie mit ihr zusammen eine neue Welt.
Elke Heidenreich hat gefragt: "Warum habe ich mich nie getraut, etwas Ähnliches zu schreiben?"
Und Frank McCourt (ebenfalls ein irischer Schriftsteller) meint: "Man möchte, dass das Buch nie aufhört. Und man ahnt, dass hier der wahre Wein des Lebens gereicht wird."
Ich konnte das Leben der Autorin sehr gut nachvollziehen, weil es solche Familiengeschichten nicht nur "im erzkatholischen Irland" gab, sondern auch bei uns in der DDR und auch heutzutage - im Jahr 2022 - sind Alkohol und Gewalt in der Familie immer noch präsent. Und aus Scham wird es meistens verschwiegen.
Umso mehr bewundere ich Nuala O'Faolain dafür, dass sie es geschafft hat, ihren eigenen Weg auf der Suche nach dem Glück zu gehen.
Als Kind ist man in so einem Elternhaus völlig hin- und hergerissen. Man liebt doch die Eltern. Gleichzeitig hat man wahnsinnige Angst, wie Nuala O'Faolains jüngster Bruder in einem Brief schrieb:
"'Ich liebte meine Mutter und verehrte meinen Vater, als ich ein Junge war', schrieb er mir in einem Brief, der unsere ganze Verwirrung zusammenfasste. 'Sie waren Mutter und Vater für uns, ein Kind kann das gar nicht anders sehen. Auch wenn ich mir vor Angst in die Hose gemacht habe, wenn er besoffen nach Hause kam und auf Mutter einprügelte. Ihre Hilfeschreie waren herzzerreißend, und ich verkroch mich in eine Kommodenschublade...'"
Dabei hat sich der Vater einfach geweigert, Vater zu sein. Die Söhne waren mit all den Problemen auf dem Weg zum Erwachsenwerden, auf sich gestellt. Der eine ging in die British Army, um ihn zu beeindrucken. Einer machte gar keinen Ärger, vergeudete mit Jobs, die ihm nichts abverlangten, Jahre seines Lebens. Den Jüngsten schickten die Eltern zu Nuala O'Faolain nach London. Als die Mutter ihn aufs Schiff brachte, war sie betrunken, der Vater war noch nicht mal da.
In den Internaten mussten die Mädchen alles, was sie über Körper gelernt haben, vergessen. Doch ihr Schicksal war "von einer Ehe und nicht etwa von Bildung bestimmt". Davon, was für einen Mann sie bekamen. Um aber einen zu kriegen, mussten sie mit einem gehen. "Deshalb waren die wichtigen Dinge des Lebens - das Karrierehandwerkszeug - Manieren, Figur, Kleider und sorgfältig dosierte kleine Freiheiten, die man diesem oder jenem Mann erlaubte."
In der Öffentlichkeit wurden die Gefühle, die Schulmädchen haben, immer lächerlich gemacht. Doch alle emotionalen Erfahrungen bauten auf ihnen auf, "die für das ganze Leben so entscheidend sind. Sie waren nicht bloß ein Ersatz für all das, was wir mit Jungen getan hätten, wenn wir nicht auf dem Internat gewesen wären - das vermuteten nämlich die Männer immer."
In den 1970er Jahren (Nuala O'Faolain ist in den 30er Jahren) nahm sie an Frauendemonstrationen teil. Doch man hätte sie nicht fragen dürfen, warum. Die Antwort wäre: Für die anderen Frauen. Sie hatte einen tollen Job. Es kam ihr nicht in den Sinn, sich selbst infrage zu stellen. Wenn es dann mal klickte, konnte sie überall in der Gesellschaft Sexismus sehen. "Aber mir war überhaupt nicht bewusst, mit welchem Nachdruck ich die Verantwortung für mein persönliches Glück regelmäßig den Männern zuschob."
Noch aufwühlender fand ich aber fast das Nachwort, in denen die Schriftstellerin einige Sätze aus Reaktionen von überwiegend Frauen auf ihr Buch preisgibt.
Nach der Trennung von Nell (die Beziehung dauerte gut fünfzehn Jahre) füllte das Erscheinen dieses Buches die Leere in Nuala O'Faolains Leben, die garantiert gekommen wäre. Auf Anhieb landete es auf der Bestsellerliste. Fremde Menschen umarmten sie auf der Straße, liefen in den nächsten Buchladen, um sich ihr Buch signieren zu lassen. Sie erhielt Leserbriefe aus aller Welt: von Männern, doch vor allem von Frauen. Frauen, die aus ihrem Leben erzählten. Vom Mann, der fremdging, sie aber bliebe, weil sie kein Geld hatte und wegen der Kinder, die beide Elternteile haben sollten. Eine siebzigjährige Großmutter schrieb: "Sie haben die Aufgabe, das auszusprechen, was wir, die wir uns nicht artikulieren oder von zu Hause aus zögerlich sind, fühlen und denken."
Eine junge Frau schrieb: "...eine obskure Scham darüber, weiblich zu sein - was ich noch nicht mal wusste, dass ich es so empfinde -, löst sich langsam...". Die meisten Frauen schrieben darüber, dass sie schon längst keine brennende Leidenschaft mehr erwarten, sie aber schon mal zufrieden wären, wenn man ihnen ehrliches Interesse entgegenbringen würde. Stattdessen müssen sie nur funktionieren. Eine Frau Schrieb: "Ich habe Angst, in den Spiegel zu schauen, in dem ich meinen Vater, den Wahnsinn oder die Leere erblicke."
Was war das für ein Leben für die Frauen. Und es waren keine Einzelfälle, so funktionierte die Gesellschaft. Als kleine Mädchen, wurden sie geschlagen, ebenso als Frauen. Niemand brachte ihnen echtes Interesse entgegen. Oft zieht es sich durch die Generationen. Glücklich die Frau, die es schafft, aus der Spirale auszubrechen. Aber was für ein Kampf ist das zumeist.
"Wenn meine Mutter alt geworden wäre und wenn ich sie hätte lieben können,
könnte ich dann heute meinen eigenen, älter werdenden Körper lieben? Wie schafft man das?"