Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon JMaria » Fr 19. Apr 2024, 10:56

Hallo Petra,
Hallo zusammen,

ein wirklich tiefgehender Lesebericht den du im Leseprojekt – Seefahrer- und Abenteuerromane- Thread verfasst hast. Danke dafür :laptop:

Ich lese derzeit eine entzückende Geschichte von Sigrid Nunez „Mitz. The Marmoset of Bloomsbury“, darin geht es um ein Krallenäffchen das Virginia und Leonard Woolf von Freunden bekamen. Leonard, ein Tierfreund, päppelt das kleine Äffchen auf. Man muss sich das so vorstellen, dass es damals Mode war so kleine Äffchen zu besitzen, die nur Handtellergroß waren (heute wären das die Handtaschen-Hündchen). Leonard hat sich sogar im Zoo Tipps für die Pflege und Gesundheit dieser Rasse eingeholt. Für das Äffchen war es ein Glück, dass es zu den Woolfs kam. Das Äffchen gab es wirklich und kommt in Virginias Briefen und Tagebuch vor, auch dass Mitz sogar mal ihr Leben rettete als sie in Nazi-Deutschland unterwegs waren.

https://www.theparisreview.org/blog/201 ... -marmoset/

Und es lässt einen auch an „Flush“ von Virginia Woolf denken, in dem es um den Hund der Dichterin Elizabeth Barrett Browning geht. So tritt hier Sigrid Nunez auch in die Fußstapfen Virginia Woolfs.

Sigrid Nunez schreib darüber einfühlsam und auch humorvoll. Da die deutsche Übersetzung derzeit nicht zu kriegen ist (Das Krallenäffchen) lese ich es im Original, was ganz gut klappt.

https://www.amazon.de/Mitz-Marmoset-Blo ... 265&sr=1-1


Dann lese ich mit Vergnügen und Spannung Christopher Isherwood: Mr Norris steigt um aus den 1930er Jahren und beschreibt auch das Leben in Berlin Anfang der 30er Jahren. Der junge Engländer William Bradshaw, der in Berlin Privatunterricht für Englisch gibt, lernt im Zug Mr Norris kennen. Eine seltsame Gestalt, aber sie freunden sich an und so begibt man sich als Leser, am Vorabend des 2. Weltkriegs, in die Unterwelt Berlins. Trotz des humorvollen Tons, schwingt auch das Unheil mit, das man als Leser spürt.

Die Entstehungsgeschichte des Romans ist auch lesenswert, u.a. dass aus den Berlin-Geschichten das Musical Cabaret entstand:
https://de.wikipedia.org/wiki/Mr._Norris_steigt_um
Schöne Grüße, Maria
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Christoph Hein: Glückskind mit Vater
Sigrid Nunez: Mitz. The Marmoset of Bloomsbury (ebook)


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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon Didonia » So 21. Apr 2024, 12:55

Moin miteinander,

endlich schaffe ich es, mal etwas mehr über ein Buch zu schreiben, als nur den Klappentext und Buchbeginn. Dabei ist es kein Buch, dem ich die höchste Wertung geben würde.
Doch ich möchte schon seit Jahren einen zweiten Versuch mit dieser Autorin wagen, von der ich mir auf Verdacht eine Reihe Bücher gekauft habe, weil einige Leserinnen aus diesem Forum, deren Urteil ich doch ganz gut vertraue, von Annie Proulx schwärmen.
Der erste Versuch - "Schiffsmeldungen" ging schief. Ich hatte vorab die Verfilmung gesehen. Zu krass fiel mir der Unterschied der Hauptfigur zwischen Buch und Film aus. Dabei gefiel mir die Geschichte sehr gut. Und ich werde es mit dem Buch noch einmal probieren.

Nun also habe ich "Ein Haus in der Wildnis" beendet.

Zu Beginn erzählt die Autorin von ihrer Familie. Die Erinnerungen reichen da bis ins 16. Jahrhundert zurück. Und immer wieder fließt Historisches über diesen Landstrich mit ein.

"Im Wesen des Menschen ist etwas, was unermüdlich danach strebt, die Vergangenheit entweder auszulöschen oder nach Hause zu tragen."

Oder auch eine schöne Naturbeschreibung:

"Eines Samstags Anfang Juni fuhren wir bei verblüffend windstillem Wetter zum Gipfel der Klippe von Bird Cloud hinauf. Stechmücken umschwärmten uns. Präriehunde bezogen wachsam Stellung, einen Fuß im Bau, und beäugten uns argwöhnisch. Die Bodendecker am Rand der Klippe und an ihrem Abhang waren voller Kissen unzähliger winziger Blüten, weiß, blau, gelb purpurn. Eine Pflanze namens ,Eriogonum', als wilder Buchweizen bekannt, gefiel mir besonders gut. Verschwenderisch blühten überall der Indianische Malpinsel in seinen vier Farben. Johanniskraut und gelber Mauerpfeffer, Hüllblumen und Flammenblumen, weiße Vergissmeinnicht und leuchtend blauviolette Lupinen. Auf dem Rückweg zum Haus hinunter am späten Nachmittag kamen wir an dem Lieblingsbaumstrunk des Virginia-Uhus vorbei, auf dem der Uhu döste, bis es Zeit wäre, sich aufzuraffen und nächtens Furcht und Schrecken zu verbreiten..."

Die Gegend, in der Annie Proulx bauen lässt, und sie ist immerhin schon über 70, ist sehr rau. Vom Wetter her, aber teilweise auch durch die Nachbarn, die hauptsächlich Rancher sind. Und die Kühe machen viel an Natur kaputt.
Dabei hat sie das Grundstück von einer Naturschutzbehörde gekauft. Aber denen ist weniger an Naturschutz gelegen, als an Geschäften mit den Ranchers.

Über den Hausbau erzählt sie sehr detailliert. Man könnte meinen, das lese sich langweilig, doch im Gegenteil, sie schreibt sehr interessant. Es geht vieles schief. Der Architekt zum Beispiel weiß anscheinend alles besser. So einige Gewerke schlampen. Über andere Sachen ist sie begeistert. Sie mag ein Haus mit Ecken und Kanten. Sie mag Schattenspiele in den Zimmern.

Als sie den ersten Winter hier erlebt, stellt sie fest, dass sie diese Jahreszeit gar nicht hier wohnen kann, denn da ist niemand, der die Gegend, insbesondere den Weg zum Haus vom Schnee befreit.
Immer wieder machen die Kühe Ärger. Annie Proulx überlegt, einen arbeitslosen Kuhvertreiber einzustellen, weil sie nicht noch mehr Zäune aufstellen möchte. Aber Zäune verspäten sich nicht und machen keinen Urlaub.

Probleme gab es auch mit den Tausenden von Büchern, welche katalogisiert und eingeräumt werden mussten. Diese zwei Tätigkeiten ließen sich schlecht vereinbaren.

"Heute, Jahre später, wünschte ich, wir hätten die Bücher anders eingeordnet. Die Datei ist schwierig zu benutzen. Die Stichwörter sind ungenau oder überschneiden sich, und die Bücher sind schwer zu finden, sofern ich mich nicht an den Namen des Verfassers oder an den Titel erinnern kann. Das kann ich oft genug nicht und suche stattdessen nach einem Buch, das meiner Erinnerung nach einen beschädigten blauen Einband haben müsste und früher neben einem Buch über Raubtiere stand. Einer meiner Träume, der wohl nie verwirklicht werden wird, ist der, die Bücher von einem Bibliothekar neu ordnen zu lassen, der nichts auf meine halsstarrigen Vorstellungen über Ordnungssysteme gibt."

Gegen Ende des Buches gibt es noch viel Historisches. Besonderes Interesse zeigte Annie Proulx "an den Spuren jener Zeiten, als die Indianer hier gelebt hatten". Sogar ihr Grundstück war interessant für archäologische Grabungen.

Im letzten Kapitel "Ein Vogeljahr" erzählt die Autorin von der Vogelwelt, mit der sie sich ihre neue Heimat teilt.

Ich freue mich schon darauf, das nächste Buch von ihr zu lesen.
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon steffi » So 21. Apr 2024, 13:00

Spannende Lektüren, JMaria !

Ich habe Skippy stirbt von Paul Murray beendet. Er beleuchtet ein irisches Jungeninternat, das von Patres geführt wird. Pubertät, Drogen, Schlankheitswahn, zerbrochene Träume - aber auch die erste Liebe, zarte Gefühle, eine Hommage an den britischen Dichter Robert Graves, alles und noch mehr ist in dem zum Teil auch sarkastischen Roman enthalten. Mir hat es super gefallen, wie Murray das alles zusammenhält. Sehr beeindruckend !
Gruss von Steffi

:lesen:
Wolfgang Reinhard - Die Unterwerfung der Welt ( Langzeitprojekt)
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon JMaria » Mo 22. Apr 2024, 11:29

Hallo zusammen

schön von dir zu lesen, Anne.
Auf ein „Ein Haus in der Wildnis“ von Annie Proulx hat mich Sonja auch schon neugierig gemacht. Dein Beitrag oben bestärkt das Gefühl noch, dass ich dieses Buch gerne lesen möchte. Es subt bereits, denn ich mag die Bücher von Proulx unglaublich gern. Du erwähnst die Naturbeschreibungen, ja die sind wirklich gelungen, in den Büchern die ich bereits gelesen habe.

Ich freu mich über deinen Beitrag. Es ist auch eine Ermunterung.

Skippy stirbt
Steffi, das klingt nach einer ungewöhnlichen Lektüre, nicht vom Thema her, aber von der Fülle der Thematik und ist mit knapp 800 Seiten ja ein ganz schöner Wälzer.
Schöne Grüße, Maria
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon JMaria » Mi 24. Apr 2024, 15:44

Mr. Norris steigt um“ von Christopher Isherwood habe ich beendet und es hat mir gut gefallen. Ich werde mal nach weiteren Büchern von Isherwood Ausschau halten.

Nun lese ich Glückskind mit Vater von Christoph Hein.
Der 14 jährige Konstantin Boggosch verlässt die DDR ohne seiner Mutter was zu sagen, aber am Tag des Mauerbaus kommt er zurück. Eine DDR Geschichte, aber zu anfangs erstmal ein spannendes Roadmovie. Ich bin ganz gespannt wie es weitergeht. Im Moment befindet sich Konstantin in Marseille und da klappt es nicht ganz so, wie er sich das ausgedacht hat.

Ich bin nach 180 Seiten bereits vollends begeistert :daumen_hoch:
Schöne Grüße, Maria
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon Didonia » Mi 24. Apr 2024, 16:23

Ich lese ja weiterhin vorrangig Autorinnen, doch Du, Maria, erinnerst mich daran, gerade ein DDR-Buch von einem Mann gelesen zu haben. Und da habe ich sogar viel drüber geschrieben. Eigentlich mag ich keine DDR-Geschichten mehr lesen, doch dieses Buch stammt aus der verschwiegenen Bibliothek in der Edition Büchergilde. Herausgegeben wurde es von Ines Geipel (von ihr gibt es noch mehrere DDR-Sachbücher) und Joachim Walther: https://www.buechergilde.de/shop/produk ... 67-badetag

DDR, 1970er-Jahre. Der Liedermacher Salli Sallmann trat während seiner Studienzeit bei allen Möglichkeiten auf, die sich ihm boten. Bis man ihm mitteilte, dass er damit strafbare Handlungen beging. Um auftreten zu dürfen, brauchte er eine Auftrittserlaubnis und zusätzlich musste er sich einem Ensemble angliedern. Die Aufnahmeprüfung hatte er nur geschafft, weil er seine Liebesballaden, aber keine politischen Songs zum Besten gab.
Er wurde vom Chansonclub Leipzig aufgenommen, den Ortwin Quartz leitete. Dieser Club sang das Repertoire des "Oktoberklub", wie zum Beispiel "Brüder zur Sonne zur Freiheit", "Sag mir, wo du stehst" - "und alle gängigen Freiheitslieder der Befreiungsbewegungen sowie sowjetische Solidaritäts- und Militärlieder.
Salli Sallmann erhielt aber gleich zu Beginn die Order, keine politischen Texte zu singen:

",Da ist nur eine Sache', sagte Ortwin Quartz nach einem Auftritt im Maschinenbau-Klubhaus ,Roter Oktober'. ,Manche deiner Songs passen nicht besonders zu unserem Programm. Sing doch bei uns lieber deine schönen traurigen Liebeslieder und lass die politischen Sachen weg. Wir pflegen hier das Chanson, und wir wollen doch Erfolg haben, aufsteigen, auch mit dir zusammen! Da musst du uns auch ein bisschen entgegenkommen!'"

Doch schon beim nächsten Auftritt trickste Salli und sang als letztes die "Bahnhofsballade", die davon erzählte, wie er wegen seiner "langen Haare von der Transportpolizei verprügelt worden war".

Nach dem vorprogrammierten Ärger gelobte er Besserung. Aber nicht für lange. Während eines Auftritts im Leipziger Klubhaus der SED-Parteiveteranen sangen sie "Bella Ciao", "Partisanen vom Amur", "We shall overcom", "Wem gehören die Fabriken?" und "Die ganze Erde uns und kein Stück unseren Feinden". Während dieses Auftritts brach die Solistin zusammen.
In heller Aufruhr meinte Ortwin Quartz, Salli solle weitermachen. Doch der konnte mit den politischen Texten nichts anfangen. Dann eben dein Zeug, meinte Quartz und Salli nahm ihn natürlich beim Wort. Und so sang er mit seiner Gitarre vor zweihundert Veteranen der SED sein "Spielzeuglied" (gegen den Verkauf von Kriegsspielzeug in DDR-Kaufhäusern), "Badetag", "in dem auf miese Wohnverhältnisse in der DDR angespielt wurde, und einen Song über das Trampen in der DDR. Hier geht es darum, dass man den "Zwängen der Zeit" "den Zahn ziehen sollte", und sei es durch Flucht. Der Beifall hielt sich in Grenzen.

Und die Quittung folgte in Form eines Briefes auf dem Fuße:

"Der Chansonclub Leipzig hat aufgrund der Vorkommnisse beim Auftritt vor Parteiveteranen und der folgenden Aussprache beschlossen, nicht mehr mit Salli Sallmann aufzutreten."

Somit erlosch auch seine Auftrittsgenehmigung als Solist. Er zögerte es so weit wie möglich hinaus, seinen Ausweis zurückzugeben, um noch so viele Auftritte wie möglich machen zu können.

Die Partei schloss notorische Trinker aus. Sie wusste auch, warum die Menschen im Kapitalismus so viel tranken: Weil es ihnen so schlecht geht.

Da frage ich mich doch, warum so viele Menschen in der DDR tranken. Denn das war ein großes Problem (weiß ich aus eigener trauriger Familienerfahrung).

Kennt jemand die Serie "Kiezgeschichten"? Das war noch eine DDR-Serie von 1987. Da geht es um die Bewohner der Griseldastraße 9 in Berlin. An und in den Häusern wurde gebaut und man sah, dass die Schnapsflaschen schon am Vormittag auf dem Tisch standen.

Salli war eines der Kinder, das auf dem Schulhof verprügelt wurde. Als er einmal laut um Hilfe schrie und dabei die Augen verdrehte, ließen ihn die Jungen lachend los. Und so wurde Salli Klassenkasper. Das verschlechterte zwar seine Betragensnote, aber er gewann, warum auch immer, Freunde.

Doch auch die Feinde blieben nicht weg. Auf dem Heimweg wurde er immer noch verprügelt. Heute nennt man das Mobbing. Damals hat es kaum jemanden interessiert. Die Eltern wollten es nicht hören und in der Schule was zu sagen, machte die Sache nur noch schlimmer.

Dann fiel den Jungen auf, dass Salli sein Pioniertuch nicht trug (er hat einfach nicht den entsprechenden Knoten hinbekommen), und sie zwangen ihn, die Pioniergebote auswendig zu lernen:

"WIR JUNGPIONIERE lieben unsere Deutsche Demokratische Republik. WIR JUNGPIONIERE helfen mit, den Frieden zu schätzen. WIR JUNGPIONIERE lieben unsere Eltern. WIR JUNGPIONIERE halten Freundschaft mit den Kindern aller Länder. WIR JUNGPIONIERE lernen fleißig, treiben Sport und halten unseren Körper sauber. WIR JUNGPIONIERE sagen die Wahrheit. WIR JUNGPIONIERE helfen überall tüchtig mit. WIR JUNGPIONIERE singen, tanzen und spielen gern. WIR JUNGPIONIERE sind gute Freunde und helfen einander. WIR JUNGPIONIERE tragen mit Stolz unser blaues Halstuch."

Der Klassenkasper blieb Salli erhalten, auch, als er schon Thälmannpionier war. In Erdkunde zum Beispiel kam der Kasper durch, als der Lehrer "über die verschiedenen Klimazonen der Erde" vorlas und die Ausdehnung der Subtropen erklärte. Verständlicherweise, würden wir die Gegenden doch nie mit eigenen Augen sehen können.

Salli ist wissbegierig. Er stellt viele Fragen - nach den Juden zum Beispiel. Woran erkennt man sie. Nach dem Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. In den Schulbüchern lesen sie über das kapitalistische Elend. Doch wenn jemand aus der Klasse Westbesuch bekommt, kommt alles Schöne, Bunte, Wohlhabende (Schallplatten, geschmuggelte Bücher, Jeans, Zigaretten, Schokolade). Aber "Made in Germany" sind wir im Osten doch auch.

Salli ist 14. Als er ein polnisches Mädchen, deren Familie in die DDR kam, weil der Vater Arzt war und viele Ärzte in den Westen gegangen sind, als Judensau beschimpft, gibt es mächtig Ärger. Der Vater kommt in die Schule und Salli muss sich bei ihm entschuldigen. Dabei sieht er, dass dem Mann Tränen in den Augen stehen. Am Nachmittag kommt der Arzt auch zu ihm nach Hause und drückt ihm ein paar Bildbände in die Hand. Bilder, wie die Nazis in Polen gewütet haben. Da kommt Salli dann doch ins Grübeln. In der Clique, wo über die Juden geschimpft wurde, fühlt er sich dann nicht mehr wohl.

"Die Clique und ich, wir waren auseinander. Die verstanden nicht, dass ich nicht Hitler meinte, wenn ich davon redete, dass es ehrlicher zugehen müsse im Sozialismus. Ich verstand nicht mehr, was das miteinander zu tun haben sollte: der deutsche gescheiterte Nazidiktator als Alternative zu den DDR-Zuständen."

Im Frühjahr 1968 erlebte Salli die Auswirkungen des Prager Frühlings mit. Er lebte ja nahe der Grenze zur CSSR. Ein 18-jähriger Junge aus seinem Ort wurde denunziert, als er den Namen "Dubček" an eine Wand schrieb. Der war die Leitfigur des Prager Frühlings. Zwei Jahre musste der Junge im Bautzener Zuchthaus absitzen. Als er wieder draußen war, wurde er im Ort von den Leuten geschnitten.

Kommunalwahl. Da Salli zwei Wohnsitze hatte, bekam er die Unterlagen zu spät und er wollte sich der Stimme enthalten. Keiner der Wahlhelfer konnte oder wollte ihm sagen, wie er zu verfahren hatte. Sie fühlten sich nur in ihrem Ablauf gestört. Ihm wurde vorgeworfen, gegen den Sozialismus zu sein, undankbar zu sein, wo er doch sogar studieren durfte.
Unverrichteter Dinge verließ Salli das Wahllokal. Nachmittags standen zwei Männer in grauen Anzügen und SED-Parteiabzeichen vor der Tür. Einer trug die Wahlurne. "Warum wollen Sie denn unsere Kandidaten nicht wählen, es sind doch die Kandidaten der Nationalen Front? Andere kriegen Se nicht!"
Salli blieb "uneinsichtig". Wenn er die Kandidaten nicht kennt, wählt er sie auch nicht.
"Zurück zum Studium in Leipzig meldete ich mich polizeilich mit Hauptwohnsitz an, um mich besser auf die nächste Kommunalwahl vorbereiten zu können."

1972, Salli ist 19 und Student der Ingenieurökonomie an der Fachschule für Bauwesen in Leipzig.
In Halle wird "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf im Theater aufgeführt. "Die Jugend, das dürfen plötzlich wir sein, mit Lederjacken, in Blue Jeans und Parkas. Mit langen Haaren und Bärten, in Rockerklamotten, so sitzen wir in den Theaterreihen und können nicht fassen, was da auf der Bühne geschieht."

Wolf Biermann ist seit einigen Jahren verboten. Salli will unbedingt mit ihm reden. Er macht sich per Anhalter auf nach Berlin und sucht ihn. Einziger Anhaltspunkt. Eine Schallplatte soll "Chausseestraße" heißen. Und eine dreistellige Hausnummer, die mit 1 beginnt. Er findet ihn tatsächlich. Und Biermann gibt ihm einen Tipp mit auf den Weg, an wen er sich in Leipzig wenden kann: Pannach (Gerulf, Liedermacher und Texter). Bei dem kann er sich vielleicht was abgucken.

Salli trägt das Herz auf der Zunge. Das Richtige zu den falschen Leuten zu sagen, bringt ihm den Rausschmiss aus der Ingenieurschule ein. Auch das Auftrittsverbot besteht weiterhin.

Im Weiteren verschlimmert sich die Lage. Darüber möchte ich nicht so detailliert schreiben. Ich rege mich schon beim Lesen genug auf. Ich hoffe aber, ich konnte euch mit dem Bisherigen neugierig genug auf das Buch machen.
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon JMaria » Mi 24. Apr 2024, 18:27

Hallo Didonia,

danke für den ausführlichen Lesebericht über den Liedermacher Salli Sallmann. Da ist man erst mal sprachlos, was er alles erlebt hat. Das ist schon heftig.

Bei Christoph Hein geht es sanfter zu. Er beschönigt nichts im Roman, aber beim lesen fühlt man sich wohl. Es erinnert mich etwas an Siegfried Lenz Art zu schreiben.

Hier sein Werdegang:

https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Hein
Schöne Grüße, Maria
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon Didonia » Mi 24. Apr 2024, 18:54

Danke für den Link, Maria, lese ich mir durch.
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Re: Leseerlebnisse 2024...ich lese gerade...

Beitragvon steffi » Fr 26. Apr 2024, 22:38

JMaria hat geschrieben:Mr. Norris steigt um“ von Christopher Isherwood habe ich beendet und es hat mir gut gefallen. Ich werde mal nach weiteren Büchern von Isherwood Ausschau halten.

Nun lese ich Glückskind mit Vater von Christoph Hein.
Der 14 jährige Konstantin Boggosch verlässt die DDR ohne seiner Mutter was zu sagen, aber am Tag des Mauerbaus kommt er zurück. Eine DDR Geschichte, aber zu anfangs erstmal ein spannendes Roadmovie. Ich bin ganz gespannt wie es weitergeht. Im Moment befindet sich Konstantin in Marseille und da klappt es nicht ganz so, wie er sich das ausgedacht hat.

Ich bin nach 180 Seiten bereits vollends begeistert :daumen_hoch:


Christoph Hein mag ich sehr gerne. Gerade weil er so unaufgeregt schreibt, aber doch immer positiv bleibt.

@Didonia: sehr interessant, was du über Salli Sallman schreibst. Ich kenne ihn nicht, aber finde es gut, dass seine autobiografischen Texte veröffentlicht werden.
Gruss von Steffi

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Wolfgang Reinhard - Die Unterwerfung der Welt ( Langzeitprojekt)
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