“Am Meer“ habe ich zu Ende gelesen. Ich bin ja von
Elizabeths Strouts Art zu erzählen sehr angetan, und ich mag ihre Lucy Barton-Romane besonders gerne. So war es auch diesmal, und doch habe ich auch an ein paar Dingen Anstoß genommen.
Sicher liegt es daran, dass ich schon viele Romane von ihr gelesen habe, und ihr Stil sich dadurch für mich ein bisschen abgenutzt hat. So gut und einzigartig ich es finde, wenn sie schreibt „was ich damit sagen will“ oder „das habe ich damit gemeint“, so war es mir doch ein bisschen zu häufig eingesetzt. Ebenso die Art, wie Lucy, aber auch William oder in diesem Band auch Bob Burgess, in Gesprächen ihr Mitgefühl ausdrücken. Da kommt gerne ein „Ach, William“ oder ein „mein Gott,…“ oder „lieber Gott,…“. Diese Äußerungen drücken Betroffenheit und Wärme aus. Aber in der Häufigkeit bewirkte es bei mir auch das Gefühl, dass Lucy auf alles mit großem Bedauern und einer Art (überlegener) Weitsicht schaut, die das Alter mit sich bringt. Mir war das nicht immer angenehm.
In dem Roman geht es um einen weiteren Abschnitt im Leben von Lucy Barton. Und ihrem Ex-Mann William. Ihren gemeinsamen Töchtern. Aber auch ihren Geschwistern, und somit ihrer Vergangenheit.
Es geht in dem Roman aber auch um die aktuelle Lage der Gesellschaft. Die Pandemie vor allem, aber auch der Machtwechsel im Weißen Haus, und den schlimmen Ereignissen drum herum. Da ich all das in den Medien so stark verfolgt habe, hätte ich es eigentlich nicht gebraucht, das alles an Lucys Seite noch mal mitzuerleben. Dennoch ist es gerechtfertigt. Elizabeth Strout erzählt ganz dicht am Leben. Und diese Phase zählt natürlich dazu. Sie hat etwas mit den Menschen gemacht, mit jedem von uns. So auch mit Lucy Barton. Und somit auch gut, dass Elizabeth Strout durch Lucys Augen darauf schaut. Erstaunt hat mich, dass ich die Pandemie bereits so stark verdrängt habe. Wie es war, im Lockdown, und die Angst, die die Pandemie ausgelöst hat. Wie stark sich unser Leben in der Zeit geändert, der Situation angepasst hat. Ebenfalls interessant fand ich es, durch Lucy das alles in den USA mitzuerleben. Wir kennen das aus den Nachrichten, aber dieser persönliche Blick aus diesem Land ist doch noch mal etwas anderes.
Die Spaltung in der Gesellschaft wurde durch die Pandemie noch verstärkt, besonders aber durch die Regierungszeit Donald Trumps. Lucy macht sich auch ihre Gedanken über die Spaltung. Durch ihre Augen erhält der Leser auch einen Blick auf die andere Seite der Gesellschaft. Im Umgang mit einer Nebenfigur, Charlene (man kennt diese Figur aus dem letzten Roman mit Olive Kitteridge), zeigt sie, wie man umgehen kann mit der anderen Haltung, der anderen Meinung. Ich weiß was sie damit zum Ausdruck bringen will. Dennoch erschien es mir ein wenig plakativ. Lucy nimmt sich Zeit für Charlene, und bietet ihr (da sie ihr einsam erscheint) an, mit ihr spazieren zu gehen. Man spürt jedoch, dass die beiden sich nicht ebenbürtig sind. Weil Lucy sich nicht ebenbürtig fühlt, sondern überlegen. Das sagt sie nicht, und sie will das auch nicht. Und doch strahlten diese Szenen genau das für mich aus. Eigentlich hat es mir nur noch stärker die Sprachlosigkeit verdeutlicht, mit der beide Seiten einander gegenüberstehen. Immerhin schafft Elizabeth Strout es zu verdeutlichen, dass sich auf beiden Seiten ja keine schlechten Menschen gegenüberstehen. Aber um die Sprachlosigkeit zu überbrücken bedarf es mehr, als gönnerhaft die andere Seite zu Wort kommen zu lassen, und sich einen Kommentar über die abstrusen Ansichten zu verkneifen. Mit so einer Sichtweise hat sonst die andere Seite am Ende sogar recht, dass auf sie herabgeblickt wird. Auch das ist ja etwas, was Lucy erkennt, dieses Herabblicken. Und trotzdem tut sie es doch irgendwie auch im Umgang mit Charlene. Dieses gewollt nett zu ihr sein und auch etwas Verständnis haben zu wollen, macht sie alles andere als ebenbürtig. Was man auch verstehen kann. Aber so kommt man nicht zusammen. Und somit ist Lucys Versuch gut gemeint. Aber er zeigt mir nur noch deutlicher, dass das auch kein Weg ist.
Dennoch glaube ich schon, dass Elizabeth Strout damit den ein oder anderen Leser dazu ermutigen kann, einmal die andere Betrachtungsweise einzunehmen, was ja wichtig ist, um nicht noch weiter auseinander zu treiben, sondern sich aufeinander zuzubewegen. Die Absicht war jedenfalls gut. Und Lucy behauptet ja auch nicht, eine Lösung zu haben. Sie tut halt auch nur, was sie tun kann. Und das ist wahrlich nicht viel. Weil die Ursachen tiefer sitzen.
Elizabeth Strout lässt Lucy (sie ist ja Schriftstellerin) auch an einem neuen Roman arbeiten, in dem es um eine Figur geht, die die andere Seite der Gesellschaft verkörpert. Lucy möchte sich damit in die andere Seite hineindenken, und damit Verständnis und Sympathien für diese andere Seite wecken. Vielleicht wäre es gut, wenn Elizabeth Strout selbst einen Roman über eine solche Figur, vielleicht Charlene, schreiben würde. Mich würde interessieren, wie Charlene Lucy wahrnimmt, und auf ihre gemeinsamen Spaziergänge und Unterhaltungen blickt. Das würde vielleicht mehr erklären und mehr Verständnis wecken, als wenn Charlene nur als Nebenfigur auftritt, was den Eindruck vermittelt, dass sie lediglich geduldet wird. So sehr ich Elizabeth Strouts Absicht zu schätzen weiß, so sehr strahlte Lucy dadurch jedoch eine gewisse Überlegenheit aus, indem sie Zeit mit Charlene verbringt und sich Kommentare verkneift. In mir hat es den Eindruck der Hilf- und Sprachlosigkeit nur noch verstärkt. Die Kluft lässt sich so nicht überbrücken. Auf mich wirkte Lucys Versuch, auch jemanden wie Charlene zuzuhören, und Zeit mit ihr zu verbringen, wie ein Almosen.
Vielleicht hat Elizabeth Strout aber auch genau diese Wirkung, die es auf mich hatte, erzielt. Falls ja, dann ist es ihr gelungen, und sie hat mir die Erkenntnis näher gebracht, dass diese Überlegenheit, mit der wir auf die anderen schauen, ein Teil des Problems ist. Das sie tatsächlich da ist, dieses Überlegenheitsgefühl.
In diesem Roman führt Elizabeth Strout ihre Figuren aus unterschiedlichen Büchern zusammen (z. B. Bob Burgess aus „Das Leben, natürlich“ oder Charlene, die ab und zu über Olive Kitteridge spricht). Sie hat vor, was ich aus einem Interview mit ihr weiß, in einem nächsten Buch, alle ihre Figuren noch stärker zusammenzuführen. Einfach weil sie sie selbst so mag, sie selbst so ins Herz geschlossen hat. Das spürt man auch. Und so mögen sich ihre Figuren aus den unterschiedlichen Büchern auch gegenseitig. Das genieße ich einerseits. Aber anderseits war mir auch das ein bisschen zu dick aufgetragen.
Trotz dieser Kritikpunkte, habe ich wie alles von Elizabeth Strout, den Roman mit großem Genuss gelesen, und freue mich über die Begegnungen mit ihren Figuren auch immer sehr. So auch dieses Mal. Denn sie sind mir auch alle grundsympathisch, und man hätte sie selbst gerne im Leben. Und so habe ich Lucy auch ein wenig besorgt zurückgelassen. Sie wird langsam alt, und man spürt ihre Zerbrechlichkeit.
Vor ein paar Tagen habe ich auch ein neues ebook begonnen.
“Die mörderischen Cunninghams – Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen“ von dem australischen Autor
Benjamin Stevenson verspricht eine Mischung aus Agatha Christie und Knives Out zu sein, und wird als großes Lesevergnügen für Fans von Krimiklassikern beworben. Das Buch beginnt auch gleich mit den
10 Geboten des Detektivromans von Ronald Knox, der diese 1929 für den Detection Club verfasst hat, dessen Mitglied er (sowie u. a. Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und G. K. Chesterton) war.
Der Erzähler von „Die mörderischen Cunninghams“ stellt sich auch gleich im Prolog als zuverlässiger Erzähler vor, der die 10 Gebote in seinem Krimi befolgen wird. Im Verlauf der Handlung musste ich bereits schmunzeln, da er das mit dem zuverlässigen Erzähler wirklich sehr ernst nimmt, und seine eigene Person in seiner Schilderung der Ereignisse nicht schont. Er kommt bei sich selbst nicht immer so ganz gut weg. Ebenfalls witzig ist, dass der Erzähler bereits im Prolog verrät, in welchen Kapiteln Leichen zu erwarten sind.
Der Ort der Handlung ist ebenfalls reizvoll. Die Familie Cunningham findet sich zu einem Familientreffen in einem Ski-Resort in ein. Interessant daran ist vor allem, dass es sich um das Skigebiet Jindabyne in Australien handelt. Ich wusste gar nicht, dass es in Australien Skigebiete gibt. Dort wird ein Toter im Schnee am Berghang gefunden. Und bei dem einen Toten bleibt es nicht, soviel wurde ja schon im Prolog angekündigt. Zudem hat jeder in der Familie eine Leiche im Keller, auch das erfährt man gleich zu Beginn. Es fängt gut und vielversprechend an. Ich werde berichten.
steffi hat geschrieben:Ich kann über zwei sehr schöne Leseerlebnisse berichten.
Liebesterror von Viktorija Tokarjewa sind ein paar ganz reizende Erzählungen über verschiedene Arten von Liebe. Vorallem die Geschichte über die Beziehung zur Mutter hat mir gefallen.
In hellen Sommernächten von John Burnside spielt ganz im Norden Norwegens. Die Einsamkeit in der Natur, eine unnahbare Mutter, eine alte Sage, Todesfälle und eine rätselhafte Ich-Erzählerin spielen eine Rolle. Die Atmosphäre und die Sprache fand ich ganz wunderbar und ich rätselte herum, was das alles wohl bedeuten könnte. Leider konnte mich das Ende dann nicht überzeugen, da hätte ich mir einen raffinierteren plot gewünscht. Bis dahin war es aber ein schönes Lesen.
Steffi, das klingt wirklich beides sehr gut. Die Erzählungen von Viktorija Tokarjewa möchte ich schon länger für mich entdecken. Scheint sich sehr zu lohnen! Danke für deinen Bericht. Auch der Roman von John Burnside klingt reizvoll, auch wenn das Ende etwas unbefriedigend war. Auch hier Danke für deinen Bericht.
JMaria hat geschrieben:Ich habe Morgen und Abend von Jon Fosse eingeschoben. Es geht um die Stunde der Geburt und die Stunde seines Todes eines Fischer. Mich hat die naive Sprache, und das traumhafte an der kurzen Geschichte gefallen, aber mit dem Auktorialen Erzählens hatte ich doch etwas Probleme. Es wirkte auf mich alles doch ein bißchen kühl, gegen Ende, wenn die Tochter nach dem Vater sieht, wird es für mich eine Spur wärmer, aber dann ist die Geschichte auch schon aus.
Für mich ein rätselhafter Autor.
Interessant! Ich danke dir für deine Eindrücke, Maria. Ich kann gut nachvollziehen, was du meinst. Mir blieb Jon Fosse auch etwas ungreifbar und rätselhaft, als ich seine Erzählung "Ein Leuchten" las. Prinzipiell interessiert mich sein Werk, und vielleicht besonders seine Heptalogie um Asle.