Seite 1 von 1

Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Di 28. Mai 2024, 20:27
von Hastings
Er war einer der Mitbegründer des Detection-Club. Er war an der Erarbeitung der "10 goldenen Regeln" für Krimiautoren beteiligt. Er setzte im Folgenden alles daran, sie zu umgehen, ohne sie zu brechen. Und er lieferte Alfred Hitchcock die Vorlagen für 1 (bzw. 2) Hörspiele und einen Film. Und trotzdem kennt ihn hierzulande kein Mensch mehr. Zugegebenermaßen ist sein Werk überschaubar, übersetzt wurde nicht einmal die Hälfte, und dann schrieb er teilweise auch noch unter Pseudonym (Francis Iles).

Nur wenige Titel wurden vor dem zweiten Weltkrieg übersetzt (und sind heute kaum noch zu zivilen Preisen zu bekommen), später erschienen dann gekürzte Neuauflagen bei Ullstein und den Heyne Crime Classics, bis sich der Diogenes Verlag mit einem (leider nur halbherzigen) Versuch meldete und zwei Romane hochwertig übersetzen ließ:

"Der Fall mit den Pralinen" aus dem Zyklus um den ebenso eingebildeten wie unfähigen Hobbykriminalisten Roger Sheringham erfuhr damit schon die dritte deutschsprachige Veröffentlichung, aber die erste in ungekürzter Fassung, und die Lektüre ist ein großés Vergnügen, wenn sich 6 Hobbykriminalisten daransetzen, einen Mord anhand der mäßigen Indizienlage aufzuklären, und jeder für sich zu einer ebenso schlüssigen wie falschen Lösung kommt.
Noch interessanter fast ist "Der verschenkte Mord" (ebenfalls zuvor schon gekürzt veröffentlicht), in dem der todkranke Mr. Todhunter vor dem Dilemma steht, mit seiner verbliebenen Lebenszeit noch etwas Sinnvolles anzufangen. Er entscheidet sich für einen Mord - allerdings einen für das Allgemeinwohl. Es soll ja kein Unschuldiger leiden, sondern jemand, ohne den die Welt besser dran ist. Ein Opfer ist schließlich ausgemacht, doch damit fangen die Probleme erst so richtig an...

Doch damit verliert sich Berkeleys Spur hierzulande leider, sieht man mal von einer Neuauflage des "Falls mit den Pralinen" in den Fischer Crime Classics von 2008 und dem von Jens Wawrczeck eingelesenen Francis Iles-Roman "Verdacht" ab. Der Du Mont-Kriminalbibliothek flog er wohl leider unter dem Radar durch, und auch Klett-Cotta und Kampa haben ihn bisher ignoriert. Schade, denn von kaum einem anderen "Golden Age"-Autor würde ich mir so sehr eine Wiederentdeckung wünschen, wie von Anthony Berkeley. Geht es noch jemandem so?

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Di 4. Jun 2024, 09:59
von JMaria
Hallo Hastings

ich konnte einiges neues über Anthony Berkeley aus deinem Beitrag entnehmen und hat mich daran erinnert, dass ich „Der Fall mit den Pralinen“ im Regal stehen habe. Ich glaube, ich hab’s noch nicht gelesen. Ich weiß es nicht mehr so genau.

Ich fand auch eine Autoren-Vorstellung des Diogenes Verlags
https://www.diogenes.ch/dam/jcr:30cd8c7 ... 069298.pdf

Schade dass Diogenes und auch der Fischer Verlag diesen Autor aus dem Programm nahmen. Mich würde es freuen, wenn ein Verlag Anthony Berkeley wiederentdecken und ungekürzt übersetzen würde.

„Verdacht“ habe ich mir, angeregt durch deinen Beitrag, als Hörspiel angehört. Ein echter Klassiker, auch wenn mich die Heldin-Opferung etwas störte.

Kann man sich übrigens hier anhören:

https://archive.org/details/verdacht-na ... 13-12-2013

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Sa 29. Jun 2024, 23:12
von Hastings
Das Hörspiel zu "Verdacht" habe ich sogar auf CD. Ich mag die Story eigentlich, die "Opferung" ("Heldin" würde ich sie nicht unbedingt nennen...) ist im Grunde nur folgerichtig (und stimmiger als das - vom Studio aufgezwungene - "Happy End" des Hitchcock-Films).

Gerade bin ich bei archive.org noch über zwei BBC-Hörspiele nach Sheringham-Romanen gestoßen: https://archive.org/details/rogersheringhamBBCr4

An "The Poisoned Chocolates Case" kam die BBC wohl nicht vorbei, obwohl es immerhin bis 1984 dauerte. Bereits 1959 aber wurde "Jumping Jenny" a.k.a. "Dead Mrs. Stratton" (natürlich mit anderer Besetzung) vertont. Der zugrunde liegende Roman wurde hierzulande zunächst von Ullstein und später von Heyne unter dem Titel "Galgenvögel" veröffentlicht und ist sogar noch zu einigermaßen erschwinglichen Preisen erhältlich.

Die Prämisse ist auch hier wieder äußerst originell: während einer Hausparty entdeckt Roger Sheringham die allseits verhaßte Mrs. Stratton sauber aufgeknüpft auf der Dachterrasse. Selbstmord scheidet aus, da kein Stuhl o. ä. unter ihr liegt, aber Roger sieht nicht ein, daß für die lobenswerte Entsorgung dieses Hausdrachens jemand an den Galgen soll, also deponiert er einen Stuhl am logischen Platz. Dummerweise entdeckt die Polizei trotzdem einige Unstimmigkeiten, und so steht Roger ziemlich unter Druck - er muß den Mörder finden, bevor die Polizei IHN SELBST überführt...
Der Leser ist dabei vermeintlich im Vorteil, wird er doch Zeuge von Mrs. Strattons letzten Minuten, doch ganz so einfach hat es sich Berkeley nicht gemacht und sorgt am Schluß noch für eine hübsche Pointe.

Von den mir bekannten Sheringham-Romanen mein absolutes Highlight, das ich guten Gewissens weiterempfehle.

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Mi 3. Jul 2024, 19:36
von Kessy1
Sehr interessant! Und der Name Frances Iles sagt mir etwas. Den habe ich schon mal irgendwo gelesen.

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Mi 3. Jul 2024, 22:22
von Hastings
Unter dem Pseudonym "Francis Iles" schrieb Berkeley drei Romane:

"Malice Aforethought" (dt. "Vorsätzlich"); von Alfred Hitchcock zweimal(!) als Hörspiel(!) inszeniert und von der BBC mehrfach verfilmt.
"Before the Fact" (dt. "Vor der Tat"); von Alfred Hitchcock unter dem Titel "Suspicion" (dt. "Verdacht") verfilmt.
"As for the Women" (weder deutsch übersetzt noch verfilmt; wohl auch eher ein Psychodrama).

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Sa 6. Jul 2024, 11:49
von Kessy1
Dann kenne ich ihn im Bezug zu Alfred Hitchcock.

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Mi 17. Jul 2024, 18:51
von Hastings
Heute mit der Post gekommen:

Berkeleys „Ich könnte schwören, dass“ (The Piccadilly Murder) von 1929. Superselten (und nie wieder aufgelegt), aber leider in Frakturschrift… :buecher_boden:

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Do 1. Aug 2024, 20:02
von steffi
Viel Spaß damit ! Fraktur ist natürlich leider etwas anstregender …

Re: Anthony Berkeley (1893-1971)

BeitragVerfasst: Fr 13. Sep 2024, 16:16
von Petra
Hallo Hastings,
Hallo zusammen,

wie schön, dass du einen Anthony Berkeley-Thread eröffnet hast, Hastings! Und hier so viel von deinem gesammelten Wissen teilst.

Das Francis Iles ein Pseudonym von ihm ist, wusste ich nicht. Interessant! Und "Verdacht" steht seit ein paar Wochen ganz oben auf meiner Wunschliste. Ich sammle ja die Hörbuch-Reihe "Verfilmt von Alfred Hitchcock", und dieser ist als nächstes auf meinem Wunschzettel. Auch ich las letztens, dass das Ende von dem des Hitchcock-Films abweicht. Ich bin gespannt, wenn das Hörbuch dann irgendwann meins ist. Die Wartezeit kann ich mir aber verkürzen, da ich das Hörspiel (mit Boris Aljinovic, Gerd Wameling, Hans Peter Hallwachs u. a.) habe. Der Herbst eignet sich ja immer schön für solche Hörereien.

"Der Fall mit den Pralinen" habe ich vor ein paar Jahren gelesen, und fand ihn originell. Da jede der Figuren eine eigene Theorie hat, hätte man tatsächlich mehrere Krimis mit verschiedenen Plots daraus machen können. Und alle wären sie gut geworden.
Es gibt ein uraltes Hörspiel zu "Der Fall mit den Pralinen" unter dem Titel "Der rächende Zufall", welches ich als Radioaufnahme habe. Muss ich auch noch mal hören.

Hastings, du hast mit "Ich könnte schwören, dass" ein echtes Schätzchen ergattert! Und auf "Galgenvögel" hast du mich sehr neugierig gemacht. Ich werde mal Ausschau halten. :fernglas: