Hallo Maria,
JMaria hat geschrieben:die Sätze wirken auf mich geheimnisvoll und interessant. Wie bist du auf die Autorin aufmerksam geworden?
ich hatte vor längerer Zeit von
Silvina Ocampo den Erzählband "Die Furie" gelesen (erschienen in der Bibliothek Suhrkamp), der mich sehr beeindruckt hat und der sich auch recht gut zum Einstieg eignet, wie ich finde (gibt es leider auch nur noch antiquarisch, wird aber recht häufig angeboten). Es sind oft recht kurze Geschichten: um die zehn Seiten lang, manchmal weniger, manchmal auch mehr. Eine argentinische Schriftstellerin, die aus einer literarisch interessierten Familie stammte, bekannt ist auch ihre Schwester
Victoria Ocampo. Silvina Ocampo war erst Malerin, sie hat in Paris Malerei studiert, später widmete sie sich der Schriftstellerei. Ihre Kurzgeschichten kann man der phantastischen Literatur zurechnen, obwohl darin gar nicht immer etwas Übernatürliches geschieht. Manchmal ist man beim Lesen auch unsicher, ob der jeweilige Erzähler oder die Erzählerin sich bestimmte Sachen vielleicht nur einbildet. Die Erzählung "Die fliegenden Bücher" ist beispielsweise aus dem Blickwinkel eines Kindes geschrieben. Kinder kommen häufiger in Silvina Ocampos Erzählungen vor, sie haben aber meist etwas Unheimliches und Ungewöhnliches an sich. Überhaupt geht es in den Geschichten öfter um ein irgendein unglückliches Geschehen oder sogar um ein Verbrechen, geschildert in einer bildhaften und poetischen Sprache und untermalt von einem sanften schwarzen Humor.
Als Appetithappen noch zwei "Anfänge" aus dem Erzählband "Die Furie":
Die Erzählung "Das Zuckerhaus" beginnt so:
Der Aberglaube ließ Cristina nicht in Frieden leben. Eine Münze mit abgegriffenem Bildnis, ein Tintenfleck, der Anblick des Mondes durch zwei Scheiben hindurch, die Initialen ihres Namens, die zufällig in den Stamm einer Zeder geritzt waren, brachten sie vor Angst fast um den Verstand.Das klingt sehr spannend und unheimlich, wie ich finde.
Die Erzählung "Mimoso" fängt so an:
Seit fünf Tagen rang Mimoso mit dem Tode. Mercedes flößte ihm mit einem kleinen Löffel Milch, Fruchtsaft und Tee ein. Mercedes rief den Tierpräparator an, gab die Höhe und die Länge des Hundes an und fragte nach den Preisen. Ihn ausstopfen zu lassen würde fast ein Monatsgehalt kosten. Sie unterbrach die Verbindung und überlegte, ob sie ihn nicht gleich dorthin schaffen sollte, damit er nicht zu mitgenommen aussähe. Als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie, daß ihre Augen vom Weinen ganz verschwollen waren, und sie beschloß Mimosos Tod abzuwarten.Hieran finde ich schön, wie man in wenigen Sätzen in eine ungewöhnliche Geschichte hineinrutscht. Zunächst ist die Stimmung sehr traurig, man fragt man sich, wer dieser arme Mimoso ist, dann erfährt man in einer merkwürdig makabren Wendung, daß es ein Hund ist. Die Idee mit dem Ausstopfen wirkt eher komisch und auch ein bißchen gefühlskalt, dann aber wieder die vom Weinen verschwollenen Augen, das wirkt dann wieder gar nicht komisch. Hier entsteht beim Lesen eine seltsame Stimmung, man weiß nicht so genau, woran man da eigentlich ist. Die Geschichte endet dann übrigens mit einem Verbrechen.
Witzig fand ich den Beginn von "Die Drossel" aus dem Band "Die Farbe der Zeit":
Mein Königsvogel aus dem Wald von Córdoba aß gern rohes Fleisch, er ahmte gern das Geräusch nach, das ein Lappen beim Putzen von Fensterscheiben macht: Dies war sein Gesang, und deshalb ließ ich ihn frei und adoptierte eine eine neugeborene Drossel aus Córdoba, die [...]"Königsvogel aus dem Wald von Córdoba" klingt so poetisch und dann gibt er solche schrecklichen Quietschgeräusche von sich. Einen solchen Vogel hätte ich auch freigelassen.
Ich habe mir jetzt noch Silvina Ocampos Erzählband "Der Farnwald" bei einem Antiquariat bestellt, mal sehen, ob ich ihn bekomme.
Schöne Grüße,
Wolf