von Petra » Mo 24. Feb 2020, 20:31
Nun komme ich endlich dazu zu berichten. “Herbst“ war interessant. Die Stimmung zu Zeiten des Brexit-Referendums in Großbritannien, die Zerrissenheit der Gesellschaft. Das sind die Themen. Interessant eingefangen. Aber auch die Geschichte der Freundschaft der Erzählerin zu ihrem ehemaligen Nachbarn Daniel Gluck, der am Rande des Todes steht, wird erzählt. Eine Besonderheit an Romanen von Ali Smith ist, dass es immer auch um einen Künstler geht. In diesem Roman fließt die britische Pop-Art Künstlerin Pauline Boty ein. Der (in meinem Fall eher uninteressierte) Leser erfährt einiges über ihre Arbeiten, ihren künstlerischen (missachteten) Wert und über ihr Leben. Mein Nichtinteresse wandelte sich in Interesse. Ich habe einiges im Internet nachgesehen, mir die beschriebenen Bilder angeschaut und die skizzierten Punkte in ihrem Leben verfolgt. Wenn ein Buch so etwas schafft (gerade wenn ein Interesse erst mal nicht da ist), dann ist das doch sehr erfreulich. Einer der Gründe, warum ich gerne mehr von Ali Smith lesen, und mich für den ein oder anderen Künstler interessieren lassen möchte.
Im Anschluss las ich “T. Singer“ von Dag Solstad, einem der wichtigsten Gegenwartsautoren Norwegens. Der Roman ist im Dörlemann Verlag erschienen; eine sehr schöne Ausgabe. Ein merkwürdiger Roman, eine merkwürdige Figur. T. Singer (seinen Vornamen erfahren wir nicht, was auch folgerichtig ist, da T. Singer am liebsten unerkannt bleiben möchte im Leben) ist es peinlich, wenn jemand hinter ihn schaut. Wenn seine Maske für kurze Zeit verrutscht, und jemand ihn ertappt. Ertappt bei belanglosen Dingen, wie einem aufgesetzten Lachen. Dass jemand erkennt, dass es aufgesetzt ist, das Lachen, bringt ihn aus der Fassung und erfüllt ihn mit einer tiefen Scham. Umso befremdlicher wirkt jemand wie T. Singer auf den modernen Leser, der sich doch allzu gern zur Schau stellt (oder zumindest in einer Gesellschaft lebt wo es in Zeiten von social media an der Tagesordnung ist, dass Jedermann sein Leben allen offenbart). Das Buch, und die Figur wirft Fragen auf. Fragen zu Anpassung, Verstellung, Verweigerung. Doch keine der Fragen wird laut gestellt, sondern sie fliegen einen Stellenweise an, um sich dann wieder aufzulösen. Ein interessantes Buch und ein interessanter Schriftsteller. Ich werde noch eine Weile über T. Singer nachdenken.
Nun lese ich “Tödliche Schlagzeilen“ von Michael Collins. Der US-amerikanische Autor Michael Collins schreibt Krimis, die aber viel tiefer gehen. Angesiedelt sind seine Geschichten bei den Abgehängten. So auch in „Tödliche Schlagzeilen“. Bill lebt in einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA. Früher eine Industriestadt, inzwischen verlassen. Hier schreibt er für ein Lokalblatt banale Artikel, bis eines Nachts der alte Lawson, Ronny Lawsons Vater, nicht nach Hause kommt, und kurze Zeit später im Haus, in dem Vater und Sohn lebten, ein Finger gefunden wird. Endlich ist was los. Ronny hat seinen alten Herrn zerstückelt, da sind sich alle sicher. Und endlich gibt es was, worüber Bill schreiben kann. Doch langsam kommen ihm Zweifel ob wirklich Ronny seinen Vater getötet hat. Das klingt spannend, und ist es auch. Aber die Geschichte kommt (sehr absichtlich!) nur ganz langsam in Fahrt. Denn viel mehr als um den Plot geht es um Menschen die an einem Ort leben, an dem nichts mehr passiert. Wo die guten Zeiten vorbei sind, und neue noch lange nicht in Sicht. Wie auch in seinen anderen Krimis wirft Michael Collins einen intensiven Blick auf die Missstände in der Gesellschaft und drauf, was aus den Menschen an solch einem Ort der Perspektivlosigkeit wird. Überdies verfügt Michael Collins über einen sehr eigenen Humor, der mir liegt. Mit diesem Roman stand Michael Collins auf der Shortlist des Booker Prize. Wenn mir auch „Nicht totzukriegen“ und „Schlafende Engel“ noch besser gefallen haben, so erfreut mich auch dieser Roman wieder sehr. Wer ihn liest, muss aber wissen dass er langsam erzählt wird. Man befindet sich schließlich an einem Ort des Stillstands. Und das wird spürbar. Und das gehört so.