von Petra » Mo 4. Jul 2022, 16:15
Ich lese derzeit "Die schiere Wahrheit" von Ursula Hasler und bin voller Eindrücke!
Im wahren Leben sind sich Georges Simenon und Friedrich Glauser nie begegnet. Für dieses Krimivergnügen hat Ursula Hasler jedoch solch ein Zusammentreffen der beiden Meister der Kriminalliteratur arrangiert.
In dieser Fiktion begegnen sich die beiden im Juni 1937 im Badeort Saint-Jean-de-Monts am Atlantik. Simenon ist zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreich, und hat (vorerst) seinem Kommissar Maigret den Rücken gekehrt, da er sich einen Namen abseits der Krimiserie machen will. Und Glauser lebt seit März mit Berthe Bendel im kleinen Badeort La Bernerie, und reist dritter Klasse mit seinem letzten Geld nach Saint-Jean-de-Monts, um sich dort von Doktor Schöni ein Morphium-Rezept ausstellen zu lassen. Doktor Schöni, der im Hôtel de la Plage logiert, kann ihm zwar das gewünschte Rezept nicht geben, stellt ihm jedoch einen anderen Hotelgast vor, da er weiß, dass Glauser diesen sehr bewundert. Es ist niemand geringerer als sein Vorbild Georges Simenon, der Schöpfer des Kommissar Maigret.
Simenon und Glauser kommen bei einem Strandsparziergang ins Gespräch übers Schreiben, besonders das Schreiben von Kriminalromanen. Dabei kommt ihnen die Idee, gemeinsam einen Fall zu konstruieren, an Hand dessen sie nebenbei darüber resümieren, was einen guten Kriminalroman ausmacht.
Simenon beginnt. Da er seinen Kommissar Maigret nach Band 19 vermeintlich in den Ruhestand geschickt hat, und diesen dort auch nicht stören möchte (sonst lenkt dieser ihn nur erneut davon ab, andere Bücher zu schreiben), muss er eine neue Figur ersinnen. Das ist schnell gemacht, und so beginnt die Fiktion der beiden mit Amélie Morel, einer alternden Jungfer und Krankenschwester, die von einem Patienten, den sie bis zum Tod gepflegt hat etwas Geld geerbt hat, und sich erstmals in ihrem Leben einen Urlaub gönnt. Im Hôtel de la Plage an der Atlantikküste. Ein Hotelgast wird in den Dünen tot aufgefunden, und Amélies Neffe, der junge Inspektor Laurent Picot, wird gerufen um Ermittlungen durchzuführen. Amélies Neugierde ist ebenfalls geweckt, schließlich tut sie sich schwer damit, tatenlos Tage am Strand zu verbringen. Und so steckt sie ihre Nase in die Angelegenheit.
Die Eröffnungsszene ist gemacht. Simenon und Glauser tauschen sich beim Strandspaziergang darüber aus. Für das zweite Kapitel übernimmt Glauser, und ruft seinen Wachtmeister Studer auf den Plan. Denn, so ersinnt Glauser, der Tote ist Amerikaner, mit Schweizer Wurzeln. Die einflussreiche Familie wünscht, dass ein Ermittler aus der Schweiz hinzugezogen wird. So reist Studer nach Frankreich. Fortan sind nicht nur Amélie Morel und ihr Neffe an der Aufklärung interessiert, sondern auch Wachtmeister Studer.
Von der ersten Seite an bereitete mir diese doppelte Fiktion großes Vergnügen!
Ich hatte zuvor über das Buch gelesen, dass es Ursula Hasler virtuos gelänge, sich in den Stil und die Vorgehensweisen beider Literaturgrößen einzufühlen. Dem stimme ich mit einer Einschränkung zu. Ich erkenne das für mich Typische an Simenon bislang nicht wieder. Das liegt vermutlich am meisten an der Figur der Amélie Morel und auch der Figur ihres Neffen. Beide würde ich eher in einem Krimi von Agatha Christie erwarten, oder in einem Cozy-Krimi. Die Szenen mit Amélie strahlen eine gewisse Gemütlichkeit und Schrulligkeit aus. Sehr lustig z. B. wie sie Zigarette raucht, und ihre bläuliche Qualmwolke die ihres Neffen unterstützt, und diese gemeinsam gegen Studers gelblichen Qualm seiner Brissago ankämpfen.
Hier sei erwähnt, dass Ursula Hasler in ihrer Krimifiktion Simenon sich neue Figuren ausdenken lassen musste, denn die Figur des Maigret ist geschützt, weshalb die Autorin ihn in diesem Krimi nicht auftreten lassen konnte. So reizvoll ein Zusammentreffen von Studer und Maigret gewesen wäre, trifft es sich eigentlich gut. Denn Simenon hatte zu der Zeit, zu der der Roman spielt seinen Kommissar Maigret schließlich einstweilen in Pension geschickt.
Die Kapitel und Passagen, die Haslers fiktiver Glauser zu verantworten hat, haben für mich hingegen eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem wirklichen Wachtmeister Studer-Krimi. Alle Achtung! Ich bin begeistert. Und es macht großen Spaß, diese Kapitel zu lesen. Sehr authentisch! Anders als in den Passagen, die von dem fiktiven Simenon erdacht wurden, spüre ich hier sehr stark wie sich die Autorin in Glausers Stil eingefühlt hat.
Denkt man genauer drüber nach, ist es allerdings in gewisser Weise auch folgerichtig, dass der von Glauser und Simenon hier erdachte Kriminalfall mehr Glauser‘sche Züge trägt. Schließlich ermittelt Glausers Figur Studer, während sich Simenon mit Amélie Morell und Inspektor Laurent Picot neue Figuren ausdenkt. Und vielleicht wollte Ursula Hasler nicht eine Kopie eines Kommissar Maigrets für diesen Krimi, sondern hat sich vielleicht absichtlich in eine ganz andere Richtung entschieden. Der Name Picot scheint mir auch nicht zufällig gewählt, erinnert er doch ein wenig an den Namen Poirot. An der Stelle möchte ich auch zum Ausdruck bringen, dass ich es nicht schlimm finde, dass die Figuren für mich nichts Simenon-typisches haben. Ich erkenne in den Figuren etwas eigenes von Ursula Hasler. Und das was ich das sehe, gefällt mir! Amélie bereitet mir großes Vergnügen!
Übrigens hat die Autorin auch das Jahr der Romanhandlung sehr passend ausgewählt. Glauser hielt sich 1937 im Badeort La Bernerie-en-Retz auf, welcher nicht allzu weit von Saint-Jean-de-Monts entfernt liegt. Und Simenon kauft 1938 in Nieul-sur-Mer ein Haus. Somit ebenfalls nicht weit entfernt, und gut möglich, dass er sich vielleicht ein Jahr zuvor zu diesem Zweck die umliegenden Gegenden angeschaut hat. Diese Tatsache macht auch das Setting und die Atmosphäre (der Badeort am Atlantik) des fiktiven Zusammentreffens umso authentischer.
So ergibt sich aus all diesen Details eine wunderbare und stimmige Komposition, die die Autorin hier geschaffen hat. Der Limmat Verlag (bei dem übrigens auch Friedrich Glauser beheimatet war) hat sich ebenfalls große Mühe gegeben, diese Komposition abzurunden. Die Covergestaltung ist sehr einladend. Das Coverbild zeigt ein Ölgemälde von 1930 des Künstlers René Levrel mit dem Titel „L’Hôtel de la Plage“. Kein Wunder also, dass die Bilder vom Hotel und der Umgebung, die Ursula Hasler beim Lesen heraufbeschwört dem Bild auf dem Cover so ähnlich sind. Auch hier wieder sehr authentisch und stimmig. Auch der Einband des Buches passt sich wunderbar ein; in seinem Pastellblau erinnert es an die Stimmung des beschriebenen Ortes. Der Limmat Verlag hat sich noch eine optische Besonderheit einfallen lassen. Der Buchschnitt ist nicht nur weiß, sondern in einigen Abständen auch immer mal wieder in einer Grauschattierung. Die grauschattierten Stellen sind die Passagen im Buch, in denen die fiktiven Gespräche zwischen Simenon und Glauser stattfinden. So ist es ein Leichtes, hin und her zu blättern, wenn man noch mal etwas nachschlagen möchte. Zu den Fakten hinter der Fiktion gibt es zum Abschluss ein Nachwort.
Ein Drittel des Buches habe ich gelesen. Ich werde weiter berichten. Auch ob ich noch Aspekte finde, in denen ich Simenons Stil und Vorgehensweise erkenne.
Eines noch: Ich bin sehr glücklich, dass ich das Buch gerade jetzt, an den warmen Sommertagen, lese. Es ist das perfekte Sommerbuch! Die Stimmung am Strand und im Hotel sind so toll beschrieben, dass sie sinnlich wahrnnehmbar sind. Auch aus diesem Aspekt ein Genuss!