Ich habe
“Die schiere Wahrheit“ von
Ursula Hasler beendet, und bin voller Eindrücke! Mein Bericht wird entsprechend lang. Meine Eindrücke werde ich auch als Zitat im Simenon-Thread einpflegen.
Sehr beeindruckt hat mich, wie perfekt Ursula Hasler hier zweierlei schafft: erstens einen interessanten und sehr schön zu lesenden Krimi zu schreiben, mit sommerlicher (sehr authentischer) Seebad-Atmosphäre, die zudem sehr gut recherchiert ist (man spürt das, und erfährt es im Anhang). Und zweitens eine Begegnung zweier Literaturgrößen, die nie stattgefunden hat, aber hätte stattfinden können (auch hierzu näheres im Anhang). Zudem nicht
irgendeine Begegnung, sondern eine zwischen Glauser und dem von ihm so bewunderten Simenon.
Beide Ebenen erzählt Ursula Hasler so authentisch und dicht, dass es mir (auf äußerst angenehme Weise) irgendwann schwerfiel, sie nicht hin und wieder miteinander zu vermischen. Ursula Hasler macht das mit voller Absicht (und großem Können), und mit Vergnügen stellte ich dann auch fest, dass es nicht nur mir so ging, sondern Glauser und Simenon ebenfalls. Ich bekam dadurch ein Gefühl dafür, wie nahe den beiden Schriftstellern ihre Figuren gewesen sein müssen. Man merkt das ja auch, wenn man die Krimis der beiden Autoren liest.
Ursula Hasler hat auch durch eine weitere Raffinesse die Authentizität gesteigert. Ich will erklären: Glauser sagt zu Simenon, dass er auch nicht alles aus der Vergangenheit seines Wachtmeister Studers wisse. Bei jedem Fall treten neue Details in Erscheinung, von denen ihm sein Studer zuvor nichts erzählt habe. So habe er bis vorhin auch nichts über dessen alte Bekanntschaft mit diesem Madelin gewusst, der offenbar Kommissar bei der Police judiciaire ist. Liest man den Studer-Roman "Die Fieberkurve", trifft dort Studer direkt zu Anfang auf seinen alten Bekannten Madelin. Da Glauser in "Die schiere Wahrheit" an der Überarbeitung seines Studer-Krimis "Die Fieberkurve" (1938 erschienen, also ein Jahr nach der Fiktion "Die schiere Wahrheit") arbeitet, erweckt Ursula Hasler den Eindruck, Glauser sei diese Figur während seiner fiktiven Begegnung mit Simenon entstanden, was diese fiktive Begegnung Glausers mit Simenon noch authentischer wirken lässt. Das gefällt mir! Auch, weil es solch ein nebensächliches und unwichtiges Detail ist, und es einem auf den ersten Blick gar nicht auffällt. Nur wenn man "Die Fieberkurve" kennt, oder aus Neugierde in die Studer-Romane reinblättert.
Dies ist eines von vielen Details, das mir zeigte, mit welcher Freude Ursula Hasler in ihrem Roman Fiktion und Wahrheit miteinander vermischt hat. Raffiniert!
Natürlich unterhalten sich Simenon und Glauser während ihres Strandspaziergangs übers Schreiben. Bei einer Gelegenheit sagt Glauser etwas darüber, was an Simenons Krimis so anders ist als an anderen. In Krimis geht es immer um die Lösung eines Falls, darum wer der Täter ist, und wie er überführt wird. Die Krimis mit Kommissar Maigret seien anders. Da sei nicht der Kriminalfall an sich, und die Entlarvung des Täters und die Lösung das Hauptthema, sondern die Menschen und die Atmosphäre, in der sie sich bewegen. Er sagt weiter, dass man merkwürdiger Weise in diesen Krimis im Grunde gleichgültig bleibt gegen die Lösung. Der Täter, so meint er weiter, sei ein Mensch unter anderen, wie im alltäglichen Leben auch. Zum Ausgang der Geschichte sagt er, dass es eigentlich kein Ende gäbe. Die Geschichte hört auf, ist ein Abschnitt des Lebens, aber das Leben laufe weiter.
Ich finde das wunderbar zutreffend, weshalb ich es hier erwähnen wollte. Diese Stelle, in der der fiktive Glauser das sagt, hat ihren Ursprung im Brockhoff-Brief Glausers (offener Brief über die "
Zehn Gebote für den Kriminalroman"), in dem er sich diesbezüglich geäußert hat.
Auch über die Auflösung von Fällen sprechen die beiden. Die Wahrheit, die man findet, ist nicht die schiere Wahrheit, äußert der fiktive Simenon. Der Fall, den die beiden während ihres Strandspaziergangs ersinnen, belegt dies auch.
Simenon lässt seine Figur Amélie Morel die Erkenntnis gewinnen, dass es kein Vergnügen ist, einen Kriminalfall aufzulösen. Sondern eine himmeltraurige Sache. Hier erkenne ich Simenon! Seinem Maigret merkt man es zwar nicht unbedingt durch seine direkten Gedanken an, dass es auch ihm oft so geht. Aber durch seine Taten. Ja, hier erkenne ich Simenon. Auch wenn ich lange in der Figur der Amélie Morel nichts typisches von Simenon entdeckt habe, wie ich ihn (bislang) kenne. (Ich bin aber auch zu der Erkenntnis gekommen, dass ich den ganzen Simenon noch längst nicht kenne! Doch dazu gleich näheres.)
Doch bleiben wir erst mal bei der Wahrheit: Wer Simenons und Glausers Krimis liest, wird nicht umhin kommen festzustellen, dass Maigret und Studer manchmal mit der aufgedeckten Wahrheit hadern. Weil Recht und Gereichtigkeit nicht immer dasselbe sind. Wunderbar lässt Ursula Hasler Simeneon und Glauser diesen Punkt erörtern, und dadurch dem Leser von Maigret- und Studer-Romanen erklären, was Simenon und Glauser in ihren Erzählungen am Herzen liegt. In dieser Unterhaltung erkennt man das Wesen der Maigret- und der Studer-Krimis.
Mir war es ein Rätsel, warum Ursula Hasler dem fiktiven Simenon eine Figur wie die Amélie Morel zugeteilt hat. Zwar nachvollziehbar, da Simenons Figuren rechtlich geschützt sind, aber warum nicht eine Figur, die seinem Maigret ähnlich ist? Studer durfte in der Fiktion ja selbst ermitteln. Und er ist ganz klar erkennbar. Dem echten Studer zum Verwechseln ähnlich! Aber Amélie?
Erst im Anhang hat sich mir die Figur der Amélie Morel erschlossen. Im letzten Abschnitt sinnt Simenon darüber nach, doch auch mal wieder einen Krimi zwischendurch zu schreiben. Sie verkaufen sich besser als seine literarischen Werke. Doch Maigret will er nicht aus dem Ruhestand holen. Eine andere Figur schwebt ihm vor. Es solle jemand sein, der sich nicht von Berufs wegen mit der Aufklärung von Verbrechen beschäftigt. Ein Laie, und damit jemand mit einem ganz anderen Blick auf ein Verbrechen als ein beruflicher Ermittler. Jemand mit medizinischen Kenntnissen (wie Amélie Morel als ehemalige Krankenpflegerin). Ein Arzt, so denkt er, wäre das richtige. Und tatsächlich schrieb Simenon 1938 (also ein Jahr nach der fiktiven Begegnung mit Glauser) die erste Erzählung mit dem kleinen Doktor („Der Spürsinn des kleinen Doktors“) als Hauptfigur, die 1939 in einer Zeitschrift und dann 1943 zusammen mit weiteren Erzählungen um den kleinen Doktor im Band „La petit docteur“ erschien. Nun bin ich sehr neugierig, den kleinen Doktor kennenzulernen (den Band "
Der Spürsinn des kleinen Doktors" mit vier Erzählungen habe ich mir bereits vermerkt). Simenon soll für die Krimi-Erzählungen mit dieser Figur einen anderen, leicht humoristischen Tonfall gefunden haben. Ich glaube hier komme ich dann der Figur der Amélie Morel auf die Schliche und recht nahe. Und damit erschließt sich mir nun auch, warum Ursula Hasler für „Die schiere Wahrheit“ Simenon eine Figur wie die der Amélie Morel hat ausdenken lassen. Es passt nun für mich! Ursula Hasler verblüfft mich damit ein weiteres mal. Denn auch hierdurch verstärkt sie die Authentizität. In der zeitlichen Einordnung hätte Simenon sich bei dieser fiktiven Begegnung vermutlich wirklich eine ähnliche Person erdacht!
Spannend finde ich auch Ursula Haslers Spiel mit dem Leser am Schluss. Die fiktive Begegnung Glausers und Simeons ist zu Ende, der erdachte Kriminalfall aufgelöst. Nur die Figuren geben keine Ruhe. Werden sie sich durchsetzen? Werden Amélie Morel und Studer noch mal ein Verbrechen zusammen aufklären? Ursula Hasler lässt diese Tür ganz leicht geöffnet. Ich hätte nichts dagegen, aber viel dafür!
Abschließend kann ich bestätigen, dass es Ursula Hasler wunderbar gelungen ist, sich in die beiden Schriftsteller einzufühlen. Über beide erfährt man in diesem Roman unglaublich viel. Man kommt ihnen sehr nahe. Und gleichzeitig ist es ihr tatsächlich gelungen, das Pastiche eines Studer-Romans zu erzählen. Sie lässt mich sehr begeistert und voller Eindrücke zurück. Ebenso der Limmat Verlag, der mit der Gestaltung des Buches der Authentizität von Haslers Roman noch eines Krone aufgesetzt hat. Ein authentischeres Cover hätte man nicht haben können. Auch hierzu Details im Anhang des Buches.