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Rezension

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Inhalt:

Roger Willemsen on the road - teils mit dem Zug, teils mit dem Auto, teils allein, teils in Begleitung unterwegs gemachter Bekannschaften reiste der Autor, Literaturkritiker und ehemalige Talkshowmoderator wochenlang kreuz und quer durch Deutschland und berichtet in diesem (Tage-)Buch von seinen Erlebnissen.

Meine Meinung:

"Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg" erkennt Willemsen gleich auf der ersten Seite des Buches. Eine schöne Variante des alten Sprichwortes von den Kirschen in Nachbars Garten, die mich sofort an lange Bahnfahrten und die dazugehörigen Träumereien beim Blick auf fremde Städte und vorbeiziehendes Landschaftsidyll erinnert hat. 

"Am schönsten ist das Buch als Versprechen" ist dagegen - leider - mein Fazit nach dessen Lektüre. Was in Willemsens Erzählungen in den vielen zum Erscheinen des Buches betingelten Talkshows nach einem begeisterten, ja liebevollen Blick auf Heimatland und -leute klang, entpuppt sich als eine oft belustigende und überhebliche intellektuelle Abhandlung über den Zustand von und die Zustände in diesem unserem Lande. Willemsen ist unterwegs im "normalen" Deutschland und kommt doch dort nie an, betrachtet seine Mitmenschen eher wie Tiere im Zoo. Vom im Klappentext versprochenenen "vorurteilsfreien Blick des Ethnologen" kann dabei aber keine Rede sein, ganz im Gegenteil - seine Kommentare über die leicht abgehalfterte, sylturlaubende Managergattin, den das ganze Zugabteil mit seinen Handytelefonaten beglückenden Comicschlips-Träger, die joggingbehoste und schlappenbeschuhte Dosenbierfraktion vor der örtlichen Frittenbude und das Verhalten des sehenswürdigkeitenbestaunenden deutschen Urlaubers an sich unterscheiden sich nicht von Hinz' und Kunz' Gedanken und bedienen in erster Linie Klischees. Sie sind zudem viel zu oft abfällig, beinahe verächtlich, und zeugen von einer Überheblichkeit, die (obwohl sich niemand davon völlig freisprechen kann) in einem solchen Buch nichts zu suchen hat. Gleiches gilt für wenig schmeichelhafte Geschichten über namentlich genannte ehemalige SchulkameradInnen. (Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens die Nennung von Birgit Kempker in der Danksagung, wurde diese doch vor einigen Jahren gerichtlich zur Zahlung von Schmerzensgeld und Vernichtung aller existierenden Exemplare ihres Buches verurteilt, nachdem sich ein dort namentlich genannter ehemaliger Freund verunglimpft fühlte.)

Die lustigen Reise-Anekdoten, die Willemsen in vielen Interviews zum Besten gab, sind im Buch zum Teil nicht wiederzufinden - schade. Überhaupt kommt mir das "von" viel zu kurz gegenüber dem bloßen "über", treten Begegnungen und Gespräche zurück hinter Beobachtungen, die wiederum nur als Aufhänger für die mehr oder weniger philosophischen Reflexionen des Roger Willemsen dienen. Beobachtungen wie Reflexionen überdies, für die in ihrer Gesamtheit auch ein aufmerksamer Rundgang durch eine beliebige deutsche Großstadt statt einer langen Reise durch das Land ausgereicht hätte. Daher macht das Buch auf mich größtenteils den Eindruck, als wäre es weniger das Ergebnis der Reise, sondern diese vielmehr Mittel zum Zweck, sich einmal über die Eigenarten des deutschen Volkes auslassen zu können. 

Zwischen Willemsens Sprache und dem jeweiligen Objekt der Beschreibung liegen oft Welten, was den Eindruck vom Zoobesuch noch verstärkt. Zwar wäre er der Letzte, von dem man flaches oder umgangssprachliches Geschwafel erwarten würde, ein weniger intellektueller Stil hätte diesem Text jedoch gut getan. So wirkt seine Formulierkunst, die er sonst zweifellos hervorragend beherrscht, hier trotz Originalität und viel Humor manchmal etwas gezwungen, bleibt der Autor Land und Leuten irgendwie fern. Das wäre sicher angebracht, sogar zwingend erforderlich, würde es sich bei "Deutschlandreise" um eine ethnologisch-wissenschaftliche Betrachtung mit dem angekündigten vorurteilsfreien Blick handeln. Da das aber nicht der Fall ist, das Buch ja auch als Belletristik vermarktet wird (was vielleicht falsche Erwartungen weckt?), fällt es für mich irgendwie in die Kategorie "nix halbes und nix ganzes". 

Nachtrag:

Längst war diese Rezi geschrieben, als ich Roger Willemsen auf einer "Deutschlandreise"-Lesung erleben konnte. Sonst ja eher ein Schnellsprecher, las er sehr langsam, aber so wohlintoniert und -akzentuiert, an manchen Stellen beinahe schauspielerisch, dass das Zuhören ein reines Vergnügen war. Und da war er wieder, dieser begeisterte, fast verliebte Blick auf die Menschen und ihre Geschichten, der mich so neugierig auf das Buch gemacht hatte. Keine Spur von Überheblichkeit - statt dessen ein sogar etwas schüchtern wirkender, warmherziger Autor, der sich, obwohl doch eigentlich Applaus gewöhnt, wie ein kleiner Junge über die Begeisterung des Publikums und das bei vielen Szenen ausbrechende Gelächter zu freuen schien, was ihn absolut sympathisch wirken ließ. Lag es an den geschickt ausgewählten Abschnitten, dass ich trotz eindeutigen Wiedererkennens der Textstellen plötzlich dachte, ein völlig anderes Buch gelesen zu haben, oder sollte ich Roger Willemsen darin einfach vollkommen missverstanden haben? Nach der Lesung habe ich ihn auf meinen Eindruck angesprochen und erfahren, dass ich nicht die einzige bin, die Arroganz und Überheblichkeit aus seinen Zeilen herausgelesen hat - was er sehr bedauere, denn beides liege ihm fern. Ich habe daraufhin kurz überlegt, die Rezi noch einmal zu überarbeiten, um ihm nicht Unrecht zu tun, aber das wäre natürlich Blödsinn gewesen, schließlich geht es hier um eine Beurteilung des Buches allein aufgrund des Leseeindrucks, nicht um eine Beurteilung nach einer meinungsrevidierenden Lesung und einem kurzen Gespräch mit dem Autor. Trotzdem wollte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich zumindest ein Teil meines Eindrucks offenbar als falsch erwiesen hat.

Mein Fazit: es bleibt bei nur zwei Sternen für die "Deutschlandreise" und der Frage, welchen Eindruck ich wohl gewonnen hätte, wenn ich zuerst die Lesung erlebt und dann beim Lesen des Buches Roger Willemsens Stimme und Tonfall im Kopf gehabt hätte. Ich würde empfehlen, statt zur gedruckten Ausgabe vielleicht lieber zum vom Autor gelesenen Hörbuch zu greifen. (© Anja L. 2003)

Bewertung: **

( * schlecht / ** ganz gut / *** gut / **** spitze)

Infos: erschienen 2002 bei Eichborn Berlin, 207 Seiten, gebundene Ausgabe, ISBN 3-8218-0718-0, € 17.90

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© 1998 Buecher4um, erstellt am 20.04.2003, letzte Änderung am 02.06.2003, Layout by abrakan