In ihrem neuen Buch schreibt Hensel über ihre Heimat: das Erzgebirge. Den
Zeitrahmen bildet das um 1860 erbaute und um 2003 geschlossene Spinnhaus in der
Nähe Neuwelts, das selbst im Laufe seiner Geschichte als Spinnhaus, Waschhaus,
Wohnhaus und Museum gedient hat. In 33 voneinander unabhängigen Erzählungen
schickt Hensel ihre Figuren durch die zeitpolitischen Ereignisse. Da arbeitet
Hubert Kasten zur Zeit des 2. Weltkrieges als Henker im Gefängnis
Berlin-Plötzen und vollstreckt Todesurteile an den Widerstandskämpfern Coppi,
C. F. Goerdeler u. a.. Der Kunstlehrer Schiebold erzieht zur Zeit des
Sozialismus seine Schüler zu kritischen Menschen und muss seinen Schuldienst
quittieren.
Durchzogen mit lyrischer Sprache und heimischer Mundart schafft Hensel einen
Sprachraum für schrullige Weibsn und Mannsbilder. Da kommen Kinder zur
schwangeren Uhlig-Trulla: „... berühren mit wohligem Gruseln ihren dicken
Bauch und bitten sie zu erzählen: >Sa uns ner wohl ewos von dir.< >Wos
wollt ihr denn hern?< >Alles, ober ma müsses glaabn könne.< Da
verzieht Uhlig-Trulla ihr lederhäutiges Gesicht und sagt: >Wenn iche wos
darzähl, is das fei immer wahr.<“
Meine Meinung:
Hensels Text „Im Spinnhaus“ bestach mich beim ersten Lesen durch die
traumvolle Sprach- und Bildgewalt. Die Schwangerschaft der Trullig-Ulla dauert
an die zehn Jahre, ein Braunbär streift durch den Neuwelter Wald oder
Aufzählungen raffen die vielfältigen Tätigkeiten kompakt zusammen. „An die
hundert Spinner und Spinnerinnen schleppten sortierten wolften mischten
schmälzten lösten wogen krempelten nitschelten und spannen Wolle Baumwolle
Garn, zwölf Stunden am Tag, faserhustend, traumversponnen des Nachts.“ Dabei
darf das Motto: „Alles erfunden!“ (K.H.) für die Erzählungen nicht
übersehen werden. Inhaltlich spielen die überwiegenden Erzählungen entweder
zur Zeit des 2. Weltkrieges oder in der Zeit des Sozialismus.
Beim zweiten Lesen stellte ich mir die Frage: Steckt da noch mehr dahinter?
Oder ist das einzig
offensichtliche, alle Erzählungen verbindende Element das Spinnhaus? Steht eine
Ordnungsstruktur hinter den Erzählungen oder können die Erzählungen auch
unabhängig voneinander erscheinen? Ein üblicher Heimatroman mit einer linearen
Handlungsstruktur und einem Happy end ist es nicht, ebenso wenig wird eine
Familiengeschichte erzählt, obgleich manche Mitglieder einer Familie eine
eigene Erzählung erhalten. Historische Ereignisse werden erst durch die
Handlungsweise der konkreten Figuren sichtbar. In
einem Interview, das der Random House Verlag mit der Autorin geführt hatte,
betonte Hensel, dass es in ihrem neuen Buch um menschliche Abgründe ginge.
“ Diese Abgründe werden wie beispielsweise bei Hubert Kasten nicht
psychologisiert, sondern dargestellt.
Ich selbst bin sehr begeistert von dem Buch, weil mich
die Figuren, die Bildgewalt und die Sprache fasziniert haben. Allerdings ist es
auch eine eigenwillige Literatur, die nicht jedem auf Anhieb gefällt. Deshalb
empfehle ich ein vorheriges Reinlesen. (Jana im Februar 2003)