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Süddeutsche Zeitung Magazin vom 13.12.1996 

Ein Parkplatz in Bochum-Linden, also. An diesem Mittwoch ist Markttag, zwanzig Straßenbahnstationen vom Hauptbahnhof entfernt, auf Kopfsteinpflaster. Zwischen den Blumenständen, Obstkörben, Kleiderbügeln fegt böskalt der Herbstwind, nur wenige Menschen sind unterwegs. Unter ihnen: ein alter Mann, eine alte Frau.

Der Mann trägt eine dunkelblaue Kordmütze, sein spärliches Haar ist grau meliert; er blickt durch eine blau getönte Brille. Der Grobstrickpullover, die wattierte Weste, die beigefarbene Trevirahose machen in jünger, als er ist. Ständig schaut er auf die Armbanduhr. Der Mann schiebt eine Frau im Rollstuhl über den verwaisten Wochenmarkt. Die weißen Haare der Frau sind am Hinterkopf platt gedrückt. Über ihrem hellblauen Bademantel aus Frottee liegt eine grünrotkarrierte Wolldecke. Die Frau hat ihre Hände im Schoß gefaltet, in ihnen steckt Gicht. Die wippt leicht mit dem Kopf. Ihr linker Unterschenkel fehlt.

Ein paar Standbesitzer kennen den agilen alten Mann, der da x-beinig seine Frau schiebt. Sie sagen: "Guten Tag, Herr Ryan, was darf’s denn sein?" Stets fragt Herr Ryan zuerst seine Frau im Rollstuhl, stets bleibt sie eine Antwort schuldig. So entscheidet er allein. Gluckig und geduldig bemüht er sich, aber er redet mit einer Leblosen: "Möchtest du einen Blumenstrauß? Der wär doch schön." Frau Ryan, Hermine Ryan, bleibt stumm. Sie guckt ihn nicht mal an. Er nimmt ein Gesteck aus Astern und Zweigen, hält es ihr vor die Brille, sie reagiert nicht. Er stellt die Blumen wieder zurück, guckt auf seine Uhr. Vorsichtig schiebt er den Rollstuhl über das Parkplatzpflaster.

Wortlos fährt er seine Gattin an den Stand, wo es Hosen gibt für Frauen ab fünfzig. Er lässt sich eine blaue zeigen, legt sie seiner Frau auf die kraftlosen Hände und die Verkäuferin sagt: "Einfach reinschlüpfen und schon ist’s warm." Frau Ryan schüttelt den Kopf, unmerklich, so dass nur ihr Ehemann daraus ein Nein ablesen kann. Sie verlassen den Markt, der Brotverkäufer schaut den beiden nach. Oft sieht er Herrn Ryan allein einkaufen, ohne die Frau im Rollstuhl.

Gleich hinter dem Markt liegt ein kniehoch umzäunter Zierfischteich, der künstlich hingespuckte Mittelpunkt eines Rentner-Refugiums aus Pflegeheim, Krankenhaus und Altenwohnheim. Alles evangelisch. Im zweiten Stock des Altenheims leben die Ryans, Nordseite. Ihre vom Staat geförderte Zwei-Zimmer-Wohnung ist 65 Quadratmeter groß und hat einen Balkon, auf dem ein Wäscheständer steht.

Wenn Frau Ryan nicht raus kann, Herr Ryan aber der Meinung ist, sie müsse an die frische Luft, schiebt er sie auf den Balkon.

Fünfeinhalb Jahre seines Lebens hat Staatsanwalt Dieter Ambach mit dieser Frau verbracht. Fünfeinhalb Jahre zu viel, wenn Ambachs Arzt etwas zu sagen hätte. Im größten und längsten Prozeß, der je in Deutschland geführt wurde, hat Ambach die "mordgierige Grundhaltung" der Frau im Rollstuhl beleuchtet. Am liebsten hätte er sie für immer von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Das ist ihm nur halb gelungen. Seit April ist Frau Ryan frei – und Dieter Ambach ein seelisch und körperlich gebrochener Mann.

 

Fünfeinhalb Jahre seines Lebens hat auch Richter a.D. Günter Bogen dieser Frau gewidmet. Auch fünfeinhalb Jahre zu viel, wenn er ehrlich ist. Als Vorsitzender Richter mußte er über Frau Ryan ein Urteil sprechen, mit dem er sich bis heute noch nicht anfreunden konnte: einmal lebenslänglich, statt dreimal, wie von Dieter Ambach beantragt. Günter Bogen ist seit zwei Jahren Pensionär, im Kopf längst noch nicht. Kinder kommen in seinen Träumen vor, die von Hermine Ryan geschlagen und in die Gaskammer abtransportiert werden. Günter Bogen ist sehr krank, die Leber streikt.

 

12.Juli 1964:

Als das Telefon von Joseph Lelyveld klingelt, liegt Manhattan noch im Bett. Es ist Sonntag früh, so gegen sieben, und Lelyveld nippt an der ersten Tasse Kaffee. Blitzschnell wird der Lokalreporter wach. Es ist ein Anruf, auf den Journalisten ein ganzes Leben lang warten.

Am Apparat meldet sich Simon Wiesenthal, der Nazijäger aus Wien, und bittet Lelyveld um Hilfe. Er möge doch mal nach Queens fahren, in die 72. Straße, Hausnummer5211. Gucken, wer da wohnt. Eine große Ehre, Wiesenthal einen Gefallen zu tun, denkt Lelyveld und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Die Kollegen werden neidisch sein. So schwänzt der junge Journalist an diesem Morgen des 12. Juli1964 die Redaktionskonferenz und setzt sich in die U-Bahn. Sein Herz klopft.

Eine Dreiviertelstunde später steht er vor der rostbraunen Klinkerfassade von Haus Nummer 5211. Der Lokalreporter klingelt, er hört sein Blut in den Ohren rauschen. Eine Frau in pinkweißgestreiften Shorts und weißer, kragenloser Bluse öffnet die Tür. Sie hält eine Farbrolle in der Hand. Sie und ihr Ehemann streichen gerade das Wohnzimmer in Lila und Gelb. Lelyveld stottert vor Aufregung: "Sind sie Frau Braunsteiner, Hermine Braunsteiner? Hat man Sie die ‚Stute von Majdanek‘ genannt?"

Die Gesichtszüge der Frau gefrieren, sie bricht in Tränen aus. Sie lässt Lelyveld an der Haustür stehen, stolpert ins Wohnzimmer zu ihrem Ehemann. Sie stammelt: "Das ist das Ende!" Ihr Englisch klingt sehr deutsch.

Weil sie ihn offenbar vergessen hat, folgt Lelyveld der Frau ins Wohnzimmer, Russel Ryan, ihr Ehemann, hält seine Frau im Arm und flüstert ihr beruhigende Worte ins Ohr. Sie merken nicht, dass der Reporter zuschaut. Und zuhört.

"Alles, was ich in Majdanek getan habe, machen Aufseher heute auch in Lagern", preßt Hermine Ryan, geborene Braunsteiner, unter Tränen hervor. Lelyveld ist nicht ganz klar, wem sie das nun sagt. Jedenfalls schreibt er mit.

"Ich habe schon genug gebüßt. Im Radio erzählen sie von Frieden und Freiheit. Warum läßt man mich nicht einfach in Ruhe?"

Lelyveld nimmt auf dem Sofa Platz. Vielleicht zwanzig Minuten bleibt er sitzen. Er wird der erste Reporter sein, der mit Hermine Ryan geredet hat.

"Ich bin genug bestraft worden", sagt sie und schneuzt sich die Nase mit einem Taschentuch, das ihr Russel Ryan reicht. "Ich saß drei Jahre in Wien im Gefängnis: Können sie sich das vorstellen? Was wollen sie von mir?"

Mit Empörung in den Augen starrt Russel Ryan auf seine Gattin und den Gast von der New York Times. "Was wollen sie von meiner Frau? Sie würde noch nicht mal einer Fliege was zu Leide tun." Joseph Lelyveld liest von einem Zettel Fakten ab, die ihm Simon Wiesenthal am Morgen diktiert hat. Hermine Ryan knetet ihre Hände, schweigt und schluchzt. Ihr Mann versteht nicht. An diesem Sonntagmorgen hört er zum ersten Mal, wem er 1958 im kanadischen Halifax das Jawort gegeben hat: einer KZ-Aufseherin.

"Meine Frau, Sir, musste diesen Dienst verrichten, man hat sie dazu gezwungen", rettet sich Russel Ryan aus der Situation. Er begleitet den Reporter zur Tür und schwört: "Meine Frau hat niemandem etwas getan, so wahr Gott mir helfe."

Vier Tage später plaziert die New York Times den Besuch ihres Lokalreporters auf Seite 1: "Former Nazi Camp Guard Is Now a Housewife in Queens" (Frühere KZ-Aufseherin lebt nun als Hausfrau in Q.). Die Entdeckung der Ryans, sagt Lelyveld heute, "war das Spannendste, was ich als Journalist je erlebt habe." Selbst nach über dreißig Jahren findet Lelyvelt es noch "unfaßbar", wie sich das Ehepaar eingerichtet hatte: "Grauenhaft banal." Ausgerechnet in dem Teil von Queens, in dem viele Polen leben, die vor den Nazis geflüchtet sind. Die ahnungslosen Nachbarn lobten H.R. damit überschwenglich. Sie sei "eine der freundlichsten Frauen, die wir kennen", erfuhr Lelyveld. Ein anderer Nachbar sagte: "Sie liebt Hunde, besonders Welpen. Sie streichelt unsern und führt ihn aus."

Was ihr Gatte und die Nachbarn nicht wußten: In führender Funktion verrichtete Hermine Ryan, damals noch Hermine Braunsteiner, von 1942 bis 1944 Dienst im polnischen Konzentrationslager Majdanek – als stellvertretende Schutzhaftlagerführerin. Die Häftlinge in Majdanek hatten für viele SS-Leute Spitznamen, denn niemand von der Kommandantur oder vom Wachpersonal stellte sich mit seinem wahren Namen vor – Hermine Ryan nannte man "Kobyla, die Stute": weil sie mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln die Menschen trat. Und sie drosch dazu noch mit der Peitsche auf sie ein. Hermine Ryan "war eine Bestie", schaudert es Simon Wiesenthal heute noch, "deren latente sadistische Veranlagung durch den Betrieb im Konzentrationslager bloß gelegt wurde".

Die Artikel von Joseph Lelyveld, heute Chefredakteur der New York Times, raubt den Ryans das idyllische Familienleben: Die 72. Straße wird zum Wallfahrtsort für Menschen, die neugierig sind, wie eine KZ-Aufseherin lebt. Reporter und Fernsehteams belagern den Bürgersteig vor dem schmalen Einfamilienhaus Tag und Nacht – stets auf der Lauer nach einer Mörderinn die doch auch mal einkaufen gehen muß.

Hermine Ryans zweite Heimat wird zur Heimat auf Abruf. Weil sie bei ihrer Einreise den Dienst am deutschen Volk unterschlagen hat, leitet die Einwanderungsbehörde ein Verfahren ein, um ihre amerikanische Staatsbürgerschaft zu annullieren. Im September 1971 verliert Hermine Ryan den US-Pass. Es dauert dann noch einmal zwei Jahre, bis das deutsche Justizministerium ein dreihundert Seiten starkes Auslieferungsersuchen stellt. Plötzlich ist auch Polen interessiert, Hermine Ryan den Prozeß zu machen. Im März 1973 kommt die 54 Jahre alte Hausfrau in Auslieferungshaft. Gatte Russell sammelt Unterschriften für eine Erklärung, in der er seine Frau als tadellosen Menschen skizziert. Ihr Anwalt versucht das Verfahren in die Länge zu ziehen, aber seine Mandantin bittet ihn, damit aufzuhören. Sie ist so geschockt von der Vorstellung, an Polen ausgeliefert zu werden, dass sie es vorzieht, vor einem deutschen Richter zu stehen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt fällt in Düsseldorf die Entscheidung, wer den Majdanek-Prozeß leiten wird: Günter Bogen.

Fünf Jahre lebt Russell Ryan mit einer Frau zusammen, die nur aus Gegenwart besteht. Ihn trifft keine Schuld: Als der US-amerikanische Soldat sie in einer Kärntner Samengroßhandlung kennen lernt, verheimlicht sie ihm Majdanek. Sie will weg aus Österreich. 1958 ziehen beide nach Halifax, Kanada, und heiraten. Ein Jahr später wechseln sie nach New York, weil Russell Ryans Bruder dort eine Autowerkstatt führt. Wiesenthal kommt ihnen nur deshalb auf die Spur, weil sie die Post nach Queens nachschicken lassen.

Als Russell Ryan am 12. Juli 1964 hört, was seine Frau im Zweiten Weltkrieg verrichtet hat, ist allein die Vorstellung so unglaublich, dass er sie sofort wegschließt in seiner Erinnerung und nie wieder öffnet. Seine Frau sei ein "Engel", eine "ganz normale Österreicherin", und das bleibe sie auch. So redet er mit den Journalisten. Bis heute. Russell Ryan ist der einzige Mensch, der zu Hermine Ryan hält. Sie führen eine ganz normale Ehe. Nur böse Menschen würden behaupten, dass Herr Ryan eine Mörderin im Rollstuhl über den Wochenmarkt schiebt.

 

Der Prozeß

 

Am 6. August 1973 hört Hermine Ryan auf zu leben. Es ist Montag, und zwei deutsche Polizisten schauen ihr dabei zu, wie sie ihren Koffer packt. heulend gibt sie ihrem Mann einen Kuß, er verspricht bald nachzukommen. Wenig später nimmt Hermine Ryan im Jumbojet der Lufthansa Platz, Economy class. Ihr Gesicht ist wie aus Wachs, "als ob alles in ihr abgestorben wäre", erinnert sich einer der Polizisten. Über dem Atlantik macht sie kein Auge zu, ißt nichts. Sieben Stunden später betritt die ehemalige KZ-Aufseherin deutschen Boden. Mit Blaulicht wird sie ins Untersuchungsgefängnis nach Köln-Ossendorf gefahren, und zum ersten Mal spricht Hermine Ryan: "Muß das sein?" Sie deutet aufs Blaulicht. Es ist ihr unangenehm. Im Konzentrationslager Majdanek wurden mindestens 250.000 Menschen vergast, erschossen, verbrannt, ertränkt, totgeschlagen, totgetreten. Die Kommandanten orderten 711 Kilogramm Zyklon B, versandten 730 Kilogramm Menschenhaar an die Industrie und gossen aus den Goldzähnen der Toten Ringe. Nach neuesten Schätzungen starben in dem Lager anderthalb Millionen Menschen. Als es im Juli 1944 von sowjetischen Soldaten befreit wurde, arbeitete Hermine Ryan bereits im Frauen-KZ Ravensbrück. Man hatte sie zur Oberaufseherin befördert.

Es vergingen dann 31 Jahre, bis der Vorsitzende der 17. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf, Günter Bogen, das längste Verfahren gegen nationalsozialistische Verbrechen eröffnete – den Majdanek-Prozeß. Bogen war damals mollig und hatte rote Apfelbäckchen – heute wiegt er dreißig Kilogramm weniger. 474 Prozeßtage zwischen November 1975 und Juli 1981, zwanzig Millionen Mark für fünfeinhalb Jahre Spurensuche – von mindesten 1300 Majdanek-Angestellten waren gerade mal 15 angeklagt. Drei Jahre später saßen Günter Bogen nur noch neun gegenüber, die anderen mußten mangels Beweisen freigesprochen werden oder waren verstorben. Diese neun wurden als letze greifbare Verantwortlich an den Massakern in Majdanek aufgespürt. Hundert Aktenordner mit 20.000 Blatt Protokollen umfaßte das Belastungsmaterial der Staatsanwälte, vierhundert überlebende Zeugen hatten geholfen, die Anklage zusammenzutragen. Die Zeugenaussagen möchte Dieter Ambach heute am liebsten als Buch veröffentlichen. Dann hätte es einen Sinn, sagt er, daß der Prozeß ihn kaputtgemacht hat.

Es war zugleich das erste und einzige NS-Verfahren in dem weiblich Lagerbedienstete vor einem deutschen Gericht standen. Zu Beginn war von Grauen keine Spur. Angeklagt waren inzwischen betuliche ältere Damen mit Strickkostüm, Wollmütze und Kuchengesicht, Hausfrauen, die man von Heim, Herd und Kaffeekränzchen weggerissen hatte. Nette Omis, die ihr Gesicht vor dem Blitzlichtgewitter der Photographen mit Tüten und Zeitungen schützen. "Bestien", die in Majdanek "panische Angst verbreiteten", die "wie besessen" schlugen und "Exzesstaten" begingen.

In der ersten Reihe vor dem Schwurgericht, das Haar unter der Wollmütze frisch geweißt, in weißer Strickjacke über einem auffallend lila Kleid, ein verbittert-kantiges Gesicht: Hermine Ryan, zu Prozessbeginn 56 Jahre alt. Sie zeigt keine Regung , auch nicht beim Anblick ihrer KZ-Kolleginnen, mit denen sie nach einigen Stunden erste Worte wechselt. Ryan sieht sich drastisch benachteiligt:

Die anderen fahren nach den Verhandlungstagen nach Hause, sie dagegen wird als Untersuchungsgefangene abgeführt. Nur einmal kommt sie für acht Monate gegen Kaution frei: 17000 Dollar haben die Nachbarn in Queens unter Russell Ryans Federführung zusammengekratzt. Weil sie aber in einer Verhandlungspause eine Zeugin mit den Worten "Sag die Wahrheit, du Lügnerin!" anzischt und so dutzendweise das alte Machtverhältnis im Lager wiederherstellt, kommt sie erneut in Untersuchungshaft. Ihr Mann besucht sie zweimal die Woche. Manchmal bringt er Uhu und Stoff mit: Frau Ryan bastelt.

Hermine Ryan ist die Schweigsamste. Wenn sie mal spricht, bestreitet sie die Vorwürfe und beugt sich wieder über ein Rätselheftchen. Einmal ermahnt sie Richter Bogen, sie möge zuhören und nicht mit einem Gummiring spielen, worauf sie zurückschnippt: "Ich höre zu."

Staatsanwalt Dieter Ambach und Günter Bogen sind in den fünfeinhalb Jahren sehr oft verzweifelt. Es gibt vierhundert Zeugenaussagen, aber keine genauen Täterzuordnungen. "Wir haben viele Leichen, aber keine Täter", seufzt Ambach einmal. Viele Zeugen verwechseln Zeit, Ort und Aufseherin, was den Angeklagten zugute kommt. Die haushalten mit Auskünften.

Die Wienerin mit den stets wechselnden Kostümen, die im Prozeß zwanghaft ihre Hände knetet, spielt dabei die große Unnahbare. Demonstrativ liest sie amerikanische Zeitungen, bastelt kleine Weihnachtsbäume für die Wachmänner und macht nur Angaben zur Person: Mit 23 Jahren arbeitete sie in einer Berliner Munitionsfabrik, für wöchentlich 16 Reichsmark. Ein Polizist, bei dem sie zur Untermiete wohnte und der den Kommandanten des benachbarten Konzentrationslagers Ravensbrück kannte, vermittelte sie für monatlich sechzig Mark in das Lager. "Freiwillig habe ich mich nicht gemeldet", erklärt Hermine Ryan, weshalb sie nach Majdanek versetzt wurde. Staatsanwalt Ambach glaubt ihr das nicht: Der Dienst in Majdanek facht ihren Ehrgeiz an. Schon nach fünf Monaten steigt sie zur stellvertretenden Oberaufseherin auf, kurz darauf wird ihr das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse ans Uniformrevers geheftet. Dass wir das rausgefunden haben", sagt Dieter Ambach heute, "darauf waren wir sehr stolz. Das mochte die Ryan nicht gern hören."

Sie möchte gar nichts hören. Statt dessen guckt sie "haßerfüllt", wie Ambach sagt, wenn die Vorwürfe am unerträglichsten werden. Irgendwann im Oktober 1943 versuchte ein Vater seinen Sohn in einem Rucksack mit ins Lager zu schmuggeln. Hermine Ryan sag, dass sich der Rucksack bewegt und schlug mit der Peitsche darauf. Bis nur noch ein Wimmern aus dem Rucksack kam. Hermine Ryan, damals 24 Jahre alt, zog den blutenden Buben an den Haaren raus. Sie warf ihn auf einen offenen Lastwagen zu den anderen Kindern: Abfahrt in die Gaskammer. Diese Szene verfolgt Dieter Ambach heute noch.

Hermine Ryan schlug Kinder mit einer Suppenkelle blutig, weil die sich auf einen Essenskübel stürzten. Sie peitschte Mädchen, die ihre Häftlingsnummer nicht korrekt angenäht, Strümpfe getragen, Kissen unter die dünne Kleidung gebunden oder über Hunger geklagt hatten. Kinder und Säuglinge galten in Majdanek als "unnütze Esser".

Weil im Frühjahr 1943 mehr Juden aus dem Warschauer Ghetto nach Majdanek deportiert wurden, als das Lager faßte, konnten die Kinder nicht sofort vergast werden. Etwa hundert wurden deshalb in eine Baracke verlegt, bis in den Gaskammern wieder Platz war. Beim Abtransport packte Hermine Ryan kräftig mit an. Die Kinder, die von allein nicht auf die Todeslastwagen klettern konnten, faßte sie an "Ärmchen und Beinchen und warf sie wie Schlachtvieh auf die offene Ladefläche". Frauen, soll Ryan gesagt haben, "sind wie Scheiße". Womöglich sprach sie aus bloßem Neid: Hermine Ryan ist unfruchtbar, sie kann keine Kinder bekommen.

Einmal bittet Frau Ryan Richter Bogen um Gehör – sie sagt mit Engelsblick: "Herr Richter, der ganze Eindruck und die ganze Atmosphäre im Lager haben mich seelisch sehr belastet, ich meine als Frau." Wie sie es fertig brachte, überhaupt zu töten, will Günter Bogen daraufhin wissen. Frau Ryan weicht aus: "Ich konnte mir kein richtiges Urteil erlauben, ob die Häftlinge zu Recht oder zu Unrecht eingesperrt waren, weil ich deren Akten nicht kannte." Ob sie denn wenigstens eingesehen habe, dass hier Unrecht geschah: Nein. Wenn ich die Lebenserfahrung damals gehabt hätte. Aber ich war ja erst 19 oder 20."

Russell Ryan sitzt im Zuschauerraum. In den Pausen streichelt er seiner Frau den Rücken oder erklärt dem Tagesschau-Reporter: "Meine Frau hat das alles nie getan. Das ist Siegerjustiz, was die mit ihr machen."

Zweimal bricht Hermine Ryan zusammen – mitten in der Verhandlung. Als eine Zeugin berichtet, wie Frau Ryan einen jüdischen Jungen erschoß, der vorm Abtransport in die Gaskammer fliehen wollte, hämmert sie mit den Fäusten auf den Tisch und brüllt: "Die Frau soll die Wahrheit sagen! Ich habe keinen Jungen erschossen!" Sie stampft mit den Füßen auf den Boden, sie bekommt einen Schreikrampf. Ihr Rechtsanwalt beruhigt sie keineswegs, im Gegenteil. Er verlangt einen Gutachter, der den Geruch von verbranntem Tier- mit Menschenfleisch vergleichen möge. Es könnte ja sein, dass nur Tiere in Majdanek verbrannt wurden . Der Gerichtsarzt diagnostiziert einen "reaktiven Erregungszustand" bei Frau Ryan, nicht bei ihrem Anwalt. Prozesspause für einen Tag.

Zwei Jahre später, 1979, kollabiert sie erneut. Sie schreit: " I can’t take it anymore, help me!" Ein Arzt attestiert akuten Kreislaufkollaps: Die Patientin befinde sich seit 14 Jahren in einem "Stresszwang", lebe in einer "dauernden Konfliktsituation".

Unter dem Kronleuchter im Saal III verliest Hermine Ryan im Mai 1981 ein wohlformuliertes Schlußwort, Ghostwriter ist ihr Anwalt. Mit Samt in der Stimme äußert sie sich das letze Mal öffentlich: "Ich trage Schuld, aber ich bin keine Mörderin." Sie verstehe erst heute, wie es den Menschen "damals im Lager zumute gewesen sein kann, die unter den schwersten Entbehrungen ihr tägliches Dasein fristeten". Sie habe Majdanek für ein "Umschulungslager" gehalten. "Im Lager gab es dann kein Zurück. Es war Krieg, und jeder mußte an seinem Platz ausharren, wo er hingestellt wurde." Als "Zahnrad im Getrieben" sei sie in immer größerem Ausmaß mit hineingezogen worden.

Sie sei keine Mörderin: "Nur ich ganz allein und der Herrgott wissen, daß dies die Wahrheit ist." Sie werde ihr ganzes restliches Leben daran zu tragen haben, dass "ein nicht zu bestimmendes Schicksal mich zum Glied einer Kette machte, die zu zerreißen ich zu klein und deren Lauf anzuhalten ich nicht fähig war".

Zum Schluß dreht Hermine Ryan den Spieß herum – und klagt das Gericht an:

"Was wissen Sie meine Herren, was wissen die Menschen, die hier Zuhörer waren, von uns und dem täglichen Durchmachen, fünf und ein halbes Jahr hier zu sitzen, wie man innerlich zusammenfällt angesichts der Dinge, die man uns vorwirft? Was weiß ein anderer Mensch als wie von all dem Leid, das wir tragen und mit dem wir büßen, was wir weder geplant noch erdacht haben?"

Die blumige Selbstverteidigung nach fünf wortkargen Jahren nutzt Ryan nichts. Die anderen acht Angeklagten erhalten Haftstrafen zwischen drei und zwölf Jahren, Hermine Ryan lebenslänglich. Das Gericht attestiert ihr "persönlichen Ehrgeiz, Befehle in besonders brutaler bestialischer Art und Weise auszuführen", Sie habe ,aus egoistischem Interesse eilfertig zum befohlenen Mord beigetragen, sich durch eigenen Beitrag die Tat zu eigen gemacht‘. Das Urteil, das Richter Günter Bogen am 30. Juni 1981 zehneinhalb Stunden lang mit zitternder Stimme verliest, entfacht weltweit Empörung. Einmal lebenslänglich bei 250000 Ermordeten – das versteht ja noch nicht mal der Urteilsverkünder. 15 Jahre sitzt Hermine Ryan im Mühlheimer Frauengefängnis, unterbrochen durch Aufenthalte im Justizhospital in Fröndenberg, wo ihr der linke Unterschenkel amputiert wird. Sie näht Stofftiere und bessert so ihr Taschengeld auf. Sie turnt und vertreibt sich so der Langeweile. Sie kapselt sich von den Mitgefangenen ab und läßt niemanden in ihre Zelle. Der einzige Kontakt zur Außenwelt ist ihr Mann Russell – der einzige Mensch überhaupt, der sich bis heute an die Idee klammert, seine Frau werde verwechselt.

Im April dieses Jahres wird Hermine Ryan entlassen. Ministerpräsident Johannes Rau erweist ihr Anfang des Jahres die Gnade. Mitarbeiter der nordrhein-westfälischen Justizbehörden sagen, man habe sie zum Sterben freigelassen. Sie ist 77 Jahre alt, schwer gicht- und zuckerkrank. Und sie ist die einzige von allen neun Verurteilten, die noch lebt.

 

Der Staatsanwalt

 

In den fünfeinhalb Jahren, die Staatsanwalt Dieter Ambach den neun Angeklagten ins Gesicht schaute, entwickelte er große Disziplin sich selbst gegenüber. Denn diese neun Menschen, denen hundertfacher Mord und Totschlag nachgewiesen werden sollte, waren für ihn keine normalen Menschen mehr: "Monster. Ich hatte allergrößte Schwierigkeiten, sie als normale Menschen zu betrachten." Wenn Dieter Ambach über den Prozeß spricht, muß er konzentriert Luft holen. Ambach, heute 58 Jahre alt, hat seine "Gesundheit dem deutschen Staat geopfert". Vor drei Jahren erlitt er einen schweren Schlaganfall, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Ein Jahr lag er, teilweise gelähmt, im Bett. Sogar die Sprache hatte er verloren. Eine Logopädin bracht ihm das Sprechen wieder bei – anhand des Dokumentationsfilms von Eberhard Fechner über den Majdanek-Prozeß. Der Prozeß hat ihm die Sprache verschlagen – und er hat durch ihn das Reden wieder gelernt. Mit der Logopädin übte er, die Worte, die er im Film sagte, nachzusprechen. Worte wie: Gaskammer, verbrennen, erschießen, treten, Nationalsozialismus. Auf vieles muß Dieter Ambach heute verzichten: Er kann nicht mehr als zweihundert Meter laufen, tauchen darf er nicht, rauchen sowieso nicht. Den Urlaub verbringt Ambach seitdem nur noch in den Bergen: Den Anblick des Meeres könnte er nicht ertragen, ohne "sehr traurig" zu werden.

Ambach hat keine Illusionen mehr, aber er ist auch nicht verbittert. Er rette sich mit der Idee, etwas Gutes getan zu haben. Wobei ihn nie jemand gelobt hat für die fünfeinhalb Jahre, in denen er sieben Tage die Woche mit Majdanek beschäftigt war. Irgendwann hatte er das Gefühl, Selbst im Lager interniert gewesen zu sein. Ambach und sein damaliger Kollege Wolfgang Weber "haben alles Schreckliche in uns reingefressen. Wir mußten ja unbeteiligt tun.". Der Schlaganfall, das sehen seine Ärzte so, war wie eine Entladung. Rache kennt dieser Mann nicht, nur Resignation. Fragte man ihn heute, ob er die nächsten fünf Jahre einem NS-Prozeß beiwohnen möchte – er würde nein sagen. Eine gewisse Leere fühlt er seit Prozeßende in sich. Denn die Strafen, die das Gericht letztendlich verhängte, waren "viel zu dünn" ausgefallen. Daß die "eiskalte, emotionslose" Hermine Ryan seit einem halben Jahr frei ist, an diesen Gedanken kann er sich nur schwer gewöhnen. Nach einer sehr langen Pause sagt Ambach: "Ich persönlich hätte es nicht befürwortet Frau Ryan freizulassen. Ich hoffe nur, daß die Opfer das verstehen."

Die Frau, der gemeinschaftlicher Mord in über tausend Fällen vorgeworfen wurde, dürfte kein normales Leben führen, weil doch die Opfer noch heute an psychischen Krankheiten litten. Das schlimmste Erlebnis, das im Prozeß erörtert wurde, war Hermine Ryans Einprügeln auf den Jungen im Rucksack seines Vaters. Daran muß er immer wieder denken und auch an Ryans verachtend-hasserfüllten Gesichtsausdruck. Bis heute versteht er nicht, wie jemand so brutal sein kann.

Einmal kam er von einem langen Prozeßtag nach Hause, an der Tür rannte ihm sein Sohn entgegen. Dieter Ambach erlitt einen Nervenzusammenbruch, er weinte und drückte seinen Sohn ganz fest. Die Erinnerungen lassen ihn nicht los. Nie werden sie ihn loslassen: "Da komme ich nicht raus, das steckt in mir drin." Noch heute möchte Ambach, der vom Schreibtisch aus Delikte wie Diebstahl und Schwarzfahren bearbeitet, an das milde Urteil am liebsten nicht erinnert werden. Am Tag der Urteilsverkündung "war ich erschüttert". Er hatte das Gefühl, die Reisen ins Ausland, die Vernehmung von über vierhundert Zeugen seien sinnlos gewesen. Diese Täter, ist Ambach überzeugt, "haben es doch nicht verdient, in Ruhe ein gemütliches Alltagsleben zu führen. Sie müssen aus einem normalen beschaulichen Leben herausgerissen und eingesperrt werden".

Die Gewißheit, daß Hermine Ryan nun eben dieses normale Leben lebt, ist Ambach "nicht gerade sympathisch".

In einem Punkt gibt er ihr allerdings Recht: daß sie sich beklagte, als einzige zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein: "Natürlich hätten die anderen auch lebenslänglich verdient," Bei der geheimen Beratung des Vorsitzenden Richters Bogen, zweier Schöffen und zweier Beisitzer sei allerdings nicht die erforderliche Vier-zu-eins-Mehrheit zustande gekommen. "Herr Bogen hat ein Urteil verkündet, das er nicht für richtig hielt", sagt Ambach. Es "ist unvorstellbar", sagte Ambach am Tag der Urteilsverkündung., der zugleich sein "beschissenster Geburtstag" gewesen ist, "daß Menschen ruhig und unbekümmert leben können, die so viel Schrecken verbreitet haben".

 

Der Richter

 

Günther Bogen sitzt auf der Couch in seinem Wohnzimmer und raucht alle zehn Minuten eine Benson&Hedges. Er spricht schleppend und leise, seine dürren Arme verschränkt er über den aufgequollenen Bauch. Bogen, 66 Jahre alt und seit zwei Jahren Pensionär, hat versucht, den Schrecken von Majdanek mit Alkohol zu mildern. Es hat nicht geklappt. In seinen Träumen kommt das Konzentrationslager Majdanek vor. Bogens Bilanz: "Ich habe die Quittung für den Prozeß bekommen."

Und doch vermißt er manchmal das Gericht, die Atmosphäre von Saal III. Es kommt vor, daß er seinen Kleiderschrank öffnet, in dem seine Robe hängt. Dann denkt er: "Schade, daß es vorbei ist." Er denkt dann aber auch: "Gut, daß es vorbei ist. Ich habe in Abgründe geguckt." Das Gute im Menschen? Günter Bogen lacht. Gibt’s nicht.

Günter Bogen ist über die Jahre ein trauriger Mensch geworden. Ein Richter a.D., der mit dem Gefühl "bis ans Ende meiner Tage " zurechtkommen muß, ein falsches Urteil gesprochen zu haben. Er macht kein Geheimnis daraus, unzufrieden zu sein: "Daß ich gezittert habe bei der Urteilsverkündung, das hat ja jeder mitbekommen." Was ihn spätabends, am 20. Juni 1981, zusammenbrechen ließ: das Gefühl, daß alle Mühe vergebens war, daß es ihm nicht gelungen war, seine Richterkollegen zu einem Urteilsspruch zu bewegen, der den Angeklagten und den Opfern gerecht gewesen wäre.

Fast zehn Jahre, von der Vorbereitung der Größten NS-Prozesses in Deutschland bis zu Verwerfung der Revisionen von sieben Angeklagten im Mai 1984 und der Rechtskraft des Urteils, war Majdanek die Welt, in der Günther Bogen lebte. Fünfeinhalb Jahre davon - doppelt so lange, wie das Konzentrationslager überhaupt bestand – wurde Bogen fast täglich mit dem Verbrechen konfrontiert. Als hätte eine Gesellschaft einzelnen Menschen auferlegt zu tragen, was sie selbst nicht ertragen will. Und dennoch ist Günther Bogen weit davon entfernt, sich zum Märtyrer zu stilisieren. Den Majdanek-Prozeß zu führen. Trotzdem empfindet er es als "äußerst schmerzlich", ein "verkehrtes Urteil" gesprochen zu haben. Darüber ist Bogen "traurig, traurig, schlicht traurig".

Mit dem Urteil "werde ich für den Rest meines Lebens nicht fertig werden".

Wie es zustande kam, darüber dürfen Bogen, die zwei Berufs- und zwei Laienrichter nicht reden. Das Deutsche Richtergesetz schreibt vor: "Der Richter hat über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung des Dienstverhältnisses zu schweigen." Es läßt sich aber erahnen, daß über die Urteile heftig gerungen wurde.

Der Tag des Urteils, sagt Bogen nach drei Zügen an seiner Zigarette, war "der enttäuschendste Tag in meinem ganzen Richterleben". Selbst wenn das Urteil in einigen Punkten härter ausgefallen wäre, selbst dann hätte es " in einem so offensichtlichen Mißverhältnis gestanden zu dem, was sich in Majdanek abgespielt hat, daß es mit Gerechtigkeit kaum noch was zu tun gehabt hätte".

Zufrieden, wenn man überhaupt von Zufriedenheit sprechen kann, ist Bogen mit dem Urteil gegen Hermine Ryan. Sie "war getrieben von Ehrgeiz und ein Mensch ohne moralische Bedenken. Sie hat von ihren Ellbogen Gebrauch gemacht, sie ließ die Häftlinge richtig leiden, um sich auf diese Weise nach oben zu boxen. "Frau Ryan, sagt er, sei eigentlich eine harmlose Frau, die vor roten Fußgängerampeln auf Grün wartet. Der Nationalsozialismus habe die in ihr ruhende Monstrosität aktiviert. Es ist ihm ein Rätsel, wie Hermine Ryan leben kann. Eine Frau, die Frauen die Kinder entrissen und in die Gaskammer abtransportiert hat: "Das war das Schlimmste, was im Prozeß zutage kam." Bogen hat damals innerlich gekocht vor Wut. Damit er nur ja nicht unsachlich wurde, trat ihn seine beisitzende Richterkollegin unterm Tisch gegen das Schienbein.

 

Herbst 1996

 

Sooft es geht, schiebt Herr Ryan seine Frau zum Zierfischteich. Sonst sitzt dort nie jemand, die Rentner von Bochum-Linden sehen fern. Her Ryan dagegen ist schon froh, wenn er mal raus kann mit ihr. Lange genug hat er darauf gewartet. Hermine Ryan liegt viel im Bett und starrt an die Zimmerdecke. Der Zierfischteich ist eine Abwechslung im Leben der Ryans: "Sie hat es gern, wenn sich was bewegt", sagt Herr Ryan. Er sitzt auf der Bank, sie im Rollstuhl, und sie wollen in Ruhe gelassen werden.

Frau Ryan kann kaum einen ganzen Satz sprechen, will sie ja auch nicht. "Ich habe genug gebüßt, gucken Sie mich an." Über Majdanek zu reden hat keinen Sinn: Sie hat es aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Ihr Mann spricht für sie. Er ist Garant dafür, daß sie nicht von der Vergangenheit eingeholt wird: "Meine Frau wurde stellvertretend für alle Verbrechen der Nazis verurteilt. Sie ist unschuldig. Man hat einen Krüppel aus ihr gemacht." Sein Traum wäre, in Amerika den Lebensabend zu verbringen: "Ja, das wäre schön. Hier werden wir erinnert." Der Traum bleibt einer, weil Hermine Ryan sich die amerikanische Staatsbürgerschaft durch Lügen erworben hat.

"Ihr Leben ist doch vorbei", sagt Herr Ryan. "Deutschland hat mir meine Frau genommen." Er läßt niemanden an seine Frau heran, sie gehört ihm allein – inklusive des Bildes, das er sich von ihr gemacht hat.

Er steht auf, löst die Bremst am Rollstuhl und fährt seine Frau zum Mittagessen in die Wohnung. Er muß ihr vorher noch Insulin injizieren. Eine ehrenamtliche Betreuerin kocht für die Ryans und pflegt die Frau. In der Wohnung riecht es, wie es in ungelüfteten Wohnungen riecht: ein bißchen nach Essen, ein bißchen nach Schweiß, nach Fenster zu, und das alles ganz warm. Die Wände sind beige, das Sofa und die zwei Sessel auch, im Flur steht eine Kommode, am Küchenfenster hängt ein Thermometer. Aus lauter Nächstenliebe sorgt die Betreuerin für die Ryans seit zwölf Jahren, unentgeltlich. Es ist vermutlich dieselbe Frau, die am Telefon unverhohlen droht,, wenn man den Ryans zu nahe kommt: "Wir kriegen Sie, wenn wir wollen." Wenn Frau Ryan schläft – und sie schläft viel – geht Herr Ryan auf den hauseigenen Parkplatz und bastelt an seinem roten Polo Fox. Oder er geht spazieren. Oder er trinkt eine Tasse verbilligten Kaffee in der Cafeteria des Pflegeheims. Nie bleibt er länger als eine Stunde weg, schließlich hat er Zwanzig Jahre auf seine Frau gewartet. Obwohl er, wie ein Nachbar sagt, "jetzt ja nichts mehr von ihr hat, die gibt ohnehin bald den Löffel ab".

Aber vorher sollen die Ryans ausziehen. Der Nachbar hat dafür im Haus Unterschriften gesammelt, die er der Wohnungsgesellschaft vorlegen wird. Er und drei andere Rentnerpaare können es nicht fassen, daß eine ehemalige KZ-Aufseherin ihre Nachbarin ist: "Wir wollen unsere Ruhe haben."

Manchmal geht Russell Ryan fünf Minuten zu Fuß in die Hattinger Straße, wo er die letzten 15 Jahre im Ein-Zimmer-Appartement gewohnt hat. Über ihm lebte eine Frau, die er sehr gut kennt. In ihrer Garage darf er sein Werkzeug unterstellen.

Die Nachbarin hat nur Gutes zu berichten über Herrn Ryan und über Frau Ryan auch, der sie in den acht Monaten öfter mal begegnet ist, als Frau Ryan kautionshalber auf freiem Fuß war. Die Nachbarin findet es "hart" für Herrn Ryan, so lange von der Ehefrau getrennt gewesen zu sein – im Haus ist sie die Einzige, die weiß, weshalb Hermine Ryan im Gefängnis saß. Die Nachbarin sagt: "Frau Ryan hat wirklich genug gebüßt."

Die Nachbarin putzte die Treppe von Herrn Ryan, er gab ihr Geld dafür. Zu Weihnachten schenkte er ihr Kekse. Als Hermine Ryan die acht Monate freikam, sorgte sich die ehemalige KZ-Aufseherin "rührend um meinen Sohn, der war fünf Jahre alt damals". Bonbons steckte Frau Ryan dem Sohn der Nachbarin zu und streichelte ihm über den Kopf. Und wenn die Nachbarin mal einkaufen ging und ihren Sohn nicht allein lassen wollte, durfte er im Wohnzimmer der Ryans auf seine Mutter warten.

"Ungerecht lange", findet die Nachbarin, sei Frau Ryan im Gefängnis gewesen. "Es war doch damals eben Krieg." Zweimal hat sie Hermine Ryan zum Geburtstag einen Kuchen gebacken, den Herr Ryan mit ins Gefängnis nahm. Herr Ryan, sagt die Nachbarin , "war ein Nachbar, wie man sich ihn wünscht". Sauber und ruhig und ordentlich. Als er sich von ihr verabschiedete im April, um mit seiner Frau zusammenzuziehen, sagte die Nachbarin zum Nachbarn: "Leben Sie wohl."

Die Nachbarin erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung mit Frau Ryan. Weil Herr Ryan sich so gefreut hatte, daß sie nun kam. Zufällig im Waschkeller traf sie Hermine Ryan das erste Mal, da hat sie einen "Schreck" gekriegt: "Ich wußte ja, wer sie war. Die sah ja gar nicht aus wie ein Monster, was man immer über sie gelesen hat. Die war ganz normal."